Furcht vor politischem Vakuum: So blickt die Welt auf die Bundestagswahl
In Deutschland haben demnächst die Wähler das Wort. Und dann? Besonders in der EU und den USA befürchtet man für die Zeit nach der Wahl ein politisches Vakuum.
Noch sind es fast zwei Wochen bis zur Bundestagswahl. Aber nicht nur in Europa, sondern auch in Russland, den USA und China fragt man sich: Wie geht es danach weiter mit Deutschland? Wird es einen Kurswechsel geben oder dominiert die Kontinuität?
Die Europäische Union
Zwar geht man in Brüssel davon aus, dass sich an der grundsätzlichen pro-europäischen Ausrichtung einer neuen Bundesregierung nichts ändert. Dies gelte sowohl für eine Koalition unter Führung der SPD als auch für eine unter der Union, sagt Eric Maurice von der Denkfabrik Fondation Robert Schuman in Brüssel.
Die Gefahr besteht in seinen Augen eher darin, dass sich in den nächsten Monaten im Fall von zähen Koalitionsgesprächen in Berlin ebenso in Brüssel ein politisches Vakuum bilden könnte. Auf der Agenda stehen aber wichtige Themen, vor allem der Klimaschutz.
Eine deutsche Regierung, die nur geschäftsführend im Amt ist, kann zwar ein Veto gegen einzelne Vorhaben einlegen, jedoch nicht aktiv gestalten. Das ist nach den Worten von Maurice aber nötig: „Egal ob bei der CO2-Grenzsteuer oder beim Emissionshandel – hier wird erst einmal die Haltung der neuen Bundesregierung abzuwarten sein.“
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Entscheidend ist die Position der künftigen Bundesregierung auch für den Stabilitätspakt, dessen Regeln während der Pandemie ausgesetzt wurden. Für den Sommer kommenden Jahres wird ein Vorschlag der EU-Kommission zur Reform des Paktes erwartet, der strenge Grenzen bei der Neuverschuldung und der Gesamtverschuldung vorschreibt. Ohne eine eingehende Abstimmung mit der neuen Bundesregierung kann die Brüsseler Behörde dabei aber nicht ans Werk gehen.
Dabei macht es einen Unterschied, wer künftig Deutschland regiert. Die Grünen wünschen sich mehr Flexibilität beim Stabilitätspakt, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hält die bestehenden Regeln für ausreichend. CDU und CSU setzen sich dafür ein, dass die Regeln des Stabilitätspakts wieder so schnell wie möglich in Kraft gesetzt werden.
Frankreich
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hat mit seiner Einladungs-Politik bereits deutlich gemacht, dass er sowohl Scholz als auch Armin Laschet (CDU) für Kanzler-tauglich hält. Beide erhielten vergangene Woche einen Termin im Elysée-Palast. Auch die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock hätte ein Treffen mit Macron bekommen können, aber ihr waren die Wahlkampf-Termine im Inland wichtiger.
Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:
- Das Social Media Dashboard zur Bundestagswahl 2021
- Kandidaten, Wahlprogramme und die wichtigsten Fragen und Antworten zur Bundestagswahl 2021
- Aktuelle Umfragen zur Bundestagswahl 2021 im Detail
- Der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2021: Das Tool für Unentschlossene – jetzt mitmachen!
Trotz der Gleichbehandlung der Kandidaten gehen Beobachter davon aus, dass eine von der SPD geführte Regierung die Präferenz Macrons haben könnte, weil ihr in Paris ein größeres Entgegenkommen in der Frage zugetraut wird, ob die europäischen Schuldenregeln ab 2023 möglicherweise gelockert werden sollen. Finanzminister Bruno Le Maire sprach sich jüngst deutlich für ein Aufweichen der Regeln aus und erklärte, die bestehenden Bestimmungen des Stabilitätspaktes seien „offensichtlich obsolet“.
Der Blick auf Deutschland wird aber zunehmend dadurch überschattet, dass die im April 2022 anstehende Präsidentschaftswahl bereits das politische Geschehen prägt. So beklagt der Linkspolitiker Arnaud Montebourg, der zu den Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl gehört, ein deutsches Übergewicht in der EU. Ähnliche Töne schlägt inzwischen überraschenderweise auch Michel Barnier an. Der frühere Brexit-Unterhändler der EU will sich vor der Präsidentschaftswahl im Lager der Konservativen profilieren.
USA
Die Hauptfrage der Amerikaner lautet: Wer wird die oder der nächste Angela Merkel? Die scheidende Kanzlerin genießt außergewöhnlich hohes Ansehen. In Umfragen zeigt sich regelmäßig, dass sie in Amerika deutlich beliebter ist als in ihrer Heimat. Verbunden wird mit ihr vor allem der als human empfundene Umfang mit der Flüchtlingskrise; für die Kritiker von Donald Trump war sie quasi die Antithese des damaligen US-Präsidenten.
Die Namen ihrer möglichen Nachfolger kennen jenseits der liberalen Ostküsten-Großstädte wohl nur die wenigsten - auch wenn es der „New York Times” am Sonntag gerade erst wieder einen größeren Aufschlag wert war, der Frage nachzugehen, was die Wahl in Deutschland nach sich ziehen würde.
Eine Regierungszeit von 16 Jahren ist ohnehin für Amerikaner schwer nachvollziehbar. Umso größer ist die Ungewissheit, was auf die Ära Merkel folgt. Die „New York Times“ stellt fest, dass die deutschen Wähler „Stabilität und Kontinuität“ herbeisehnten. Warum der Wahlausgang auf einmal so unsicher geworden ist, erstaunt daher viele. War nicht klar, dass die CDU auf jeden Fall den nächsten Kanzler stellen würde, lautet eine häufig gestellte Frage. Hatte man sich 2017 noch intensiv mit dem Erstarken der AfD auseinandergesetzt und gerade erst über die Folgen einer möglichen grünen Kanzlerin spekuliert, sieht nun wieder alles anders aus.
Bei Transatlantikern ist die Sorge groß, dass mit einer Hängepartie nach der Wahl Berlin als Partner der Regierung von Joe Biden bei drängenden Fragen erst einmal ausfällt – genauso wie als Führungskraft in Europa. Ein mit sich selbst beschäftigtes Deutschland, bei dessen TV-Debatten Außenpolitik kaum vorkommt, wird als größeres Problem empfunden. Biden baut auf den Schulterschluss des Westens beim Umgang mit China, Deutschlands Handelspartner Nummer 1, und Russland – da wäre Berlin gefragt. Aber es könnte dauern, bis die US-Regierung wieder Ansprechpartner in der deutschen Hauptstadt hat.
Russland
Vor der Wahl sendete der Kreml auf seine Weise ein unmissverständliches Signal. Der russische Militärgeheimdienst GRU soll nach Angaben der Bundesregierung hinter Cyberangriffen stehen, die in den vergangenen Wochen und Monaten auf deutsche Abgeordnete verübt wurden.
In ungewöhnlich deutlichen Worten machte das Auswärtige Amt kürzlich Russland für die Phishing-Attacken verantwortlich. Der Vorgang ist ein weiterer Beweis dafür, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau ist. Vor allem aber macht er deutlich, dass der Kreml tatsächlich versucht, im Wahljahr in Deutschland Einfluss zu nehmen.
Aus russischer Sicht ist Deutschland innerhalb Europas von zentraler Bedeutung. Es war Kanzlerin Merkel, die nach der Annexion der Krim und der russischen Intervention in der Ostukraine dafür sorgte, dass die EU in der Sanktionsfrage Geschlossenheit zeigte. Einerseits. Andererseits unterstützten sowohl Merkel und die Union als auch die SPD die Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2.
Ein härterer Kurs in der Russlandpolitik ist dagegen von den Grünen und auch von der FDP zu erwarten. Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock wurde ungewöhnlich oft Ziel von Desinformationsattacken. Nicht nur bei den Grünen geht man davon aus, dass ein Teil davon wohl aus Russland stammt. Womöglich werden die Grünen der nächsten Bundesregierung angehören, vielleicht sogar das Außenministerium erhalten. Im Kreml muss man sich wohl auf deutlichere Worte aus Berlin gefasst machen.
China
In der Volksrepublik wird Merkel vermisst werden. Das zeigt zum Beispiel ein respektvoller Abschiedsartikel in der staatlich kontrollierten Zeitung „China Daily“, in dem die Kontinuität der Politik der „Mutter des Pragmatismus“ gelobt wird.
Das ist besonders bemerkenswert, weil die offiziellen Stellen im autoritär regierten China demokratische politische Systeme in der Regel für ihre fehlende Kontinuität kritisieren. Doch womöglich spielt bei der freundlichen Einschätzung nicht nur die bemerkenswerte wirtschaftliche Entwicklung zwischen beiden Nationen unter Merkel, sondern auch der Blick nach vorne eine Rolle. Denn in der Zukunft kann das Verhältnis zwischen China und Deutschland eigentlich nur schlechter werden.
Das liegt daran, dass inzwischen alle wichtigen Parteien in Deutschland die Beziehungen deutlich kritischer sehen. Besonders geostrategische Herausforderungen, Marktzugangsbedingungen und die Situation der Menschenrechte stehen dabei im Mittelpunkt. China hingegen würde gerne mit der EU das ins Stocken geratene Investitionsabkommen ratifizieren, doch die Grünen sind dagegen, CDU/CSU und SPD äußern sich in ihren Wahlprogrammen nicht dazu.
Die „Global Times“ warnte sogar vor einer Kanzlerin Baerbock, weil sie sich für höhere Zölle gegenüber China ausgesprochen habe. Ein SPD-Kanzler dürfte in China zumindest nicht ungern gesehen werden, haben sich doch Helmut Schmidt und Gerhard Schröder im Nachhinein als ausgesprochen chinafreundlich erwiesen.