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Ein Plakat in Tel Aviv weist die Menschen an, Maske zu tragen.
© Corinna Kern/REUTERS

Spanien, Frankreich, Israel fahren wieder runter: Sind die neuen Lockdowns anders als im Frühjahr?

In Deutschland sollen neue flächendeckende Schließungen unbedingt vermieden werden. Wie andere vom Virus stark betroffene Länder agieren. Ein Überblick.

Im westfälischen Hamm ist Schluss mit lustig. Nachdem eine Großhochzeit mit mehr als 300 Teilnehmern die Stadt zum Corona-Hotspot gemacht hat, werden dort die Regeln für private Feiern verschärft. Sie müssen angemeldet sein und können – wenn die geplanten Hygienemaßnahmen als nicht ausreichend gelten – verboten werden.

Viele Landkreise in Deutschland fordern, dass der Corona- Krisengipfel am Dienstag eine bundesweite Obergrenze für Privatfeiern festlegt – einen sogenannten „Besucher-Deckel“ –, um einen flächendeckenden Lockdown zu verhindern. Während in Deutschland also versucht wird, einen Anstieg von Neuinfektionen über regionale Maßnahmen zu verhindern, fahren andere Länder bereits zum zweiten Mal komplett runter.

FRANZÖSISCHE WUT

In Marseille gehen Bar- und Restaurantbesitzer auf die Straße. „Sauvez les bars et les restos“ (Retten Sie die Bars und Restaurants), steht auf ihren Plakaten. Die zweitgrößte französische Stadt nach Paris ist besonders schwer von den Anti-Corona-Maßnahmen betroffen. Bars und Restaurants müssen in Marseille und Umgebung und in der benachbarten Stadt Aix-en-Provence seit Sonntag für mindestens eine Woche, vermutlich zwei Wochen oder mehr, schließen.

Am Wochenende sind die Bars in Marseille noch einmal richtig voll, die Einwohner der Stadt genießen die letzten Stunden der Freiheit. Vor allem um den alten Hafen von Marseille ist Partystimmung angesagt. Viele äußern sich empört: „Wir müssen die Situation ausbaden, weil andere ihre Ferien hier verbracht haben.“

In Marseille sind außerdem viele überzeugt, dass die Pariser Statistiken nicht den Zahlen vor Ort entsprechen. Benoît Payan, stellvertretender Bürgermeister der Stadt, sagt: „Auf unsere Gegend wird mal wieder mit dem Finger gezeigt.“ Die Stadt werde bestraft. Die Stadtpolitiker führen an, dass Marseille alles getan habe, um gegen das Virus anzukämpfen. 10.000 Tests werden pro Tag in Marseille durchgeführt, 34 Prozent mehr als in Paris. Die Corona-Ansteckungsrate liege nur noch bei 0,89 Prozent.

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Ärzte in Marseille behandeln Patienten mit Covid-19.
Ärzte in Marseille behandeln Patienten mit Covid-19.
© Christophe SIMON/AFP

Die Stadt wird seit den Bürgermeisterwahlen im Juli von Grünen und Linken geführt. Die sehen die Situation unter Kontrolle und fordern von der Regierung eine Verschiebung der Schließung um zehn Tage. Das wurde abgelehnt.

Bernard Marty, Präsident der Verbandes Umih des Departements Bouches-du-Rhône, der 7500 Restaurants und Bars vertritt, droht: „Der Staat wird uns töten, aber wir werden nicht sterben, ohne zu kämpfen.“ Er will keine generelle Schließung der Gaststätten und fordert: „Der Staat muss Kontrollen durchführen und nur die schließen, die nicht die Gesundheitsmaßnahmen respektieren.“ Marty glaubt: „Marseille wird Aufstände erleben.“

SPANIENS RISIKOREGION

Gesundheitsexperten halten die Maßnahmen der Regionalregierung Madrids zur Eindämmung der drastisch steigenden Corona-Zahlen für unzureichend. „Sie haben kein solides epidemiologisches Fundament, sie sind unverantwortlich im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit und werden Leiden bereiten sowie Leben kosten“, zitierte die Zeitung „La Vanguardia“ am Samstag den Epidemiologen und früheren Krisendirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, Daniel López Acuña.

Am Vortag hatte die konservative Regionalregierung der spanischen Hauptstadt den Rat der linken Zentralregierung missachtet, fast ganz Madrid abzuriegeln. Stattdessen ordnete sie nur die Ausweitung bestehender Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von 37 auf 45 Gebiete an. Die Stadtregierung befürchtet, dass die Wirtschaft durch einen neuen Lockdown wie im Frühjahr völlig in die Knie gehen könnte.

Passanten gehen an fast menschenleeren Tischen und Stühlen vor Restaurants und Bars im spanischen Benidorm entlang.
Passanten gehen an fast menschenleeren Tischen und Stühlen vor Restaurants und Bars im spanischen Benidorm entlang.
© Lars Ter Meulen/dpa

Am Samstag forderte Spaniens Gesundheitsminister Salvador Illa die Regionalregierung erneut auf, dem Rat der Experten zu folgen. „Die Lage in Madrid ist kompliziert und stellt ein ernsthaftes Risiko dar“, warnte er. „Es kommen schwere Wochen auf uns zu. Dies ist ein epidemiologischer Kampf gegen das Virus, kein ideologischer“, betonte der Sozialist.

Auch der Wissenschaftler des nationalen Zentrums für Biotechnologie, Saúl Ares, lässt kaum ein gutes Haar an der Strategie der Regionalregierung. „In einer dicht besiedelten Stadt wie Madrid macht es wenig Sinn, einzelne Stadtgebiete abzuriegeln, die oft nur durch einen Bürgersteig voneinander getrennt sind“, sagte er der Zeitung „El País“.

Zudem liege die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen 14 Tagen in Madrid schon lange über der Marke, ab derer mit Entschlossenheit hätte gehandelt werden müssen. Zurzeit liegt diese Zahl bei 720, in Deutschland auf sieben Tage gerechnet bei etwa 13.

ISRAELS ERSCHÖPFTE GESELLSCHAFT

Zumindest ihr Atelier bleibt ihr noch. „Vorhin habe ich dort einige Stunden gearbeitet“, erzählt Eva Wahhaba-Steiner am Telefon, „das war wunderbar“. Die 71-Jährige lebt in Holon, einer Kleinstadt südlich von Tel Aviv. Bevor Corona die Welt veränderte, war sie viel ins Kino gegangen, in Ausstellungen und ins Theater. Doch derzeit darf sie sich nur tausend Meter vom eigenen Wohnsitz entfernen.

So lautet eine der Maßnahmen, mit denen der Staat die Ausbreitung des Virus zu bremsen versucht. Theater und Galerien sind geschlossen, ebenso wie die meisten Geschäfte.

Mehr als 8000 Israelis wurden kürzlich an einem einzigen Tag positiv auf das Virus getestet. Es ist ein trauriger Rekord für das Land, das im Frühling noch für sein Pandemiemanagement gepriesen wurde. Nachdem es der Regierung nicht gelungen war, die Ansteckungsraten zu senken, verhängte sie einen zweiten Lockdown, beginnend am 18. September.

Seit Freitag gelten verschärfte Bedingungen: Nur jene Menschen, deren Tätigkeit als essenziell gilt, dürfen sich noch an ihren Arbeitsplatz begeben. Eine harte Probe für eine Gesellschaft, die erschöpft und frustriert ist von den monatelangen Einschnitten in ihr Sozialleben, wirtschaftlichen Nöten und einer oft erratischen Regierungsführung.

„Ich fühle mich traurig und erstickt von dem Lockdown“, sagt Ayala Levy, eine 74-jährige Yoga- und Hebräischlehrerin. „Dass ich mich nicht bewegen kann, wie ich will, ist kein gutes Gefühl. Uns wurde die Freiheit genommen – und das ist erst der Anfang.“

Menschenleer ist der Strand von Tel Aviv.
Menschenleer ist der Strand von Tel Aviv.
© Muammar Awad/dpa

Während der ersten Ausgangssperre im Frühling hielten fast Zwei Drittel der Israelis die Maßnahmen für angemessen. Das zeigen Umfragen des Israel Democracy Institute (IDI), eines liberalen Thinktanks.

Damals gelang es der Regierung, die Infektionszahlen in den marginalen Bereich zu drücken. Doch der anschließende Zickzackkurs mit wechselnden und oft schwer nachvollziehbaren Regeln machte nicht nur den ersten Erfolg, sondern auch viel Vertrauen zunichte.

Dazu macht die Wirtschaftskrise vielen zu schaffen. 61 Prozent der Israelis sorgen sich laut der Umfrage um ihre finanzielle Lage. Die ökonomischen Kosten des zweiten Lockdowns seien „gewaltig“, warnte selbst der staatliche Corona-Beauftrage Ronni Gamzu, der erfolglos für weniger drastische Maßnahmen plädiert hatte.

Einigen Israelis gelingt es immerhin, der Ausnahmesituation erfreuliche Seiten abzugewinnen. „Der Lockdown tut mir sehr gut“, berichtet Nora Maroni, eine 51-jährige Lehrerin für autistische Kinder. „Er gibt mir Zeit, Dinge zu tun, die ich lange nicht geschafft habe: Ich streiche mein Zimmer, renoviere, stelle neue Pflanzen auf und beschäftige mich mit Dingen, die Spaß machen.“

RÜCKTRITT IN AUSTRALIEN

Die Gesundheitsministerin des australischen Bundesstaates Victoria, Jenny Mikakos, ist nach anhaltender Kritik wegen der starken Zunahme der Coronavirus-Fälle zurückgetreten.

Polizisten in Melbourne gehen gegen Demonstranten vor, die gegen Anti-Corona-Maßnahmen demonstrieren.
Polizisten in Melbourne gehen gegen Demonstranten vor, die gegen Anti-Corona-Maßnahmen demonstrieren.
© William WEST/AFP

Die Zahl der Toten nach einer Infektion mit dem Coronavirus stieg in Victoria nach Behördenangaben am Samstag auf 782 – das entspricht einem Großteil der insgesamt 870 Todesfälle in dem 25 Millionen Einwohner zählenden Land. Der vor Wochen in Victorias Hauptstadt Melbourne angeordnete Lockdown gilt als einer der härtesten der Welt und soll nicht vor Ende Oktober aufgehoben werden. In der Metropolenregion leben rund fünf Millionen Menschen.

Für die hohe Infektionszahl in dem südöstlichen Bundesstaat werden vor allem Pannen bei der Unterbringung von Reiserückkehrern in Quarantäne-Hotels verantwortlich gemacht.

Medien zufolge haben Untersuchungen ergeben, dass der überwiegende Teil der Neuinfektionen in der zweiten Corona-Welle darauf zurückzuführen sei, dass sich private Wachleute in den Herbergen angesteckt und das Virus dann weiterverbreitet hätten. (mit dpa)

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