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Das Schiff „Alan Kurdi“ der deutschen NGO Sea-Eye.
© Cedric Fettouche/sea-eye.org/AFP

Massengrab Mittelmeer: Seenotretter funken SOS an die Bundesregierung

Die Seenotrettung wird gestoppt, auch auf Druck des Seehofer-Ministeriums. SOS Méditerranée erklärt: Europa schaue weg, wenn Menschen ertrinken.

Die zivile Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée sendet vor dem Hintergrund der immer dramatischeren Lage von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer einen dringenden Warnruf. „Die Rettung von Menschenleben auf See ist ein moralischer und rechtlicher Imperativ“, sagte der Geschäftsführer der Organisation in Deutschland, David Starke, am Dienstag dem Tagesspiegel: „Wir dürfen niemanden ertrinken lassen.“

Starke reagiert darauf, dass Italien und Malta ihre Häfen vor einigen Tagen wegen der Coronakrise für die privaten Seenotretter geschlossen hatten. Am Montag vergangener Woche hatte das Bundesinnenministerium in einem Brief an Nichtregierungsorganisationen gefordert, die Seenotrettungsaktivitäten im Mittelmeer „angesichts der aktuellen schwierigen Lage“ zu stoppen. Es sollten keine Fahrten aufgenommen und bereits in See gegangene Schiffe zurückgerufen werden, schrieb der Abteilungsleiter Migration im Seehofer-Ministerium, Ulrich Weinbrenner, an die NGOs. Das Ministerium ließ eine Anfrage des Tagesspiegels zu dem Schreiben unbeantwortet.

SOS-Méditerranée-Geschäftsführer Starke sagt dazu, Seenotrettung müsse auch in Zeiten möglich bleiben, in denen viele europäische Länder aufgrund der Corona-Krise am Rande ihrer Kapazitäten, oder wie Italien und Malta, überlastet seien. „Wir zivilen Seenotrettungsorganisationen füllen seit Jahren eine Lücke, die die europäischen Staaten geschaffen haben und für die die EU zuständig ist. Die Forderung nach der Einstellung unseres Einsatzes auf See steht im Widerspruch zu den humanitären Prinzipien der EU und internationalem Recht“, erklärt Starke.

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An die Adresse des Bundesinnenministeriums sagte er: „Der Versuch, humanitäre Hilfe für Menschen in Seenot zu verhindern, ist durch nichts zu rechtfertigen.“

Mit Blick auf Malta und Italien sagt Starke: „Es ist verständlich, dass Staaten angesichts der aktuellen Krise aus Gründen der öffentlichen Gesundheit medizinische Checkups und Quarantänemaßnahmen verordnen. Das darf aber kein Grund sein, geltendes Recht außer Kraft zu setzen und Seenotrettung zu verhindern oder zu verzögern.“

„Alan Kurdi“ und „Aita Mari“ ohne sichere Häfen

In besonderer Notlage befinden sich aktuell zwei Schiffe von privaten Seenotrettern: die „Alan Kurdi“ der deutschen Organisation Sea-Eye, die seit einer Woche fast 150 Migranten an Bord hat. Am Ostermontag konnte dann das spanische Rettungsschiff „Aita Mari“ Dutzende Migranten aus einem sinkenden Boot bergen. Die 43 geretteten Menschen hätten die Nacht auf dem kleinen Schiff verbracht, teilte die Nichtregierungsorganisation Salvamento Marítimo Humanitario (SMH), die die „Aita Mari“ betreibt, auf Twitter mit. Unter den Migranten seien eine schwangere Frau, ein Kind sowie sechs Menschen, die wegen Flüssigkeitsmangels vorübergehend bewusstlos geworden seien. Beiden Schiffen wird von Italien bzw. Malta die Ausschiffung in sichere Häfen verweigert.

Januar 2020: Ein Crewmitglied der „Ocean Viking“ kümmert sich um Kinder, die aus einem Schlauchboot vor der libyschen Küste gerettet wurden.
Januar 2020: Ein Crewmitglied der „Ocean Viking“ kümmert sich um Kinder, die aus einem Schlauchboot vor der libyschen Küste gerettet wurden.
© Hannah Wallace Bowman/MSF/dpa

Starke erneuert den Appell seiner Organisation an die EU und ihre Mitgliedstaaten, Küstenstaaten wie Italien und Malta nicht allein zu lassen. „Die Menschen ertrinken im Mittelmeer nicht an italienischen oder maltesischen Grenzen, sondern an europäischen. Das dürfen wir in Europa mit unseren Werten nicht zulassen und hier muss gemeinsam Verantwortung übernommen werden.“

Die Hölle in den libyschen Camps

SOS Méditerranée kritisiert zugleich in deutlichen Worten die Zustände in den Flüchtlingscamps in Libyen, aus denen Tausende zu fliehen versuchen. Starke sagte: „An Bord unseres Rettungsschiffes ,Ocean Viking' berichten uns die Überlebenden immer wieder von den unmenschlichen Verhältnissen, die in Libyen für Flüchtende herrschen.“

Ärzte ohne Grenzen, der medizinische Partner an Bord der „Ocean Viking“, sieht nach Angaben von SOS Méditerranée die Folter- und Schusswunden, die Menschen aus den libyschen Lagern davontragen würden. „Viele von ihnen haben mehrere Fluchtversuche unternommen, um diesen katastrophalen Bedingungen zu entkommen. Die Menschen treten verzweifelt die Flucht nach vorn an, über das Mittelmeer, unter sehr gefährlichen Bedingungen. Und dort wartet oftmals die von der EU finanzierte und ausgebildete libysche Küstenwache, die Menschen abfängt und in diese Hölle zurückbringt.“

Die EU habe in den vergangenen Jahren immer wieder mit Steuergeldern „einen absolut fragwürdigen Akteur finanziert, nur um zu verhindern, dass die Menschen nach Europa kommen“. In internationalen Gewässern vor seiner Küste sei Libyen seit 2018 offiziell für Seenotrettung und der Zuweisung eines sicheren Ortes zuständig. Die libysche Küstenwache sei eigentlich dazu verpflichtet, rund um die Uhr erreichbar zu sein und sofort Hilfe zu schicken, wenn Boote in Seenot geraten. „Stattdessen erreichen wir dort meist niemanden oder nur mit sehr großer zeitlicher Verzögerung. Am Ende weist sie immer einen libyschen Hafen für die Geretteten zu – was im Widerspruch zu internationalem Seerecht steht. Selbst die EU und ihre Mitgliedstaaten erkennen an, dass Libyen kein sicherer Ort ist. Dennoch bauen sie die libysche Küstenwache weiter aus. Ein eklatanter Widerspruch.“

In der Malta-Vereinbarung vom vergangenen Herbst war zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und Malta die Aufnahme und Umverteilung von aus Seenot geretteten Flüchtlingen geregelt worden. Aus Sicht von SOS Méditerranée reicht das nicht. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) muss sich laut Forderung der Organisation für ein europäisches Seenotrettungsprogramm einsetzen, in dem ganz klar geregelt ist, wer rettet und wohin die Überlebenden gebracht werden. „Seenotrettung ist gesetzliche Pflicht und dass diese seit Jahren umgangen wird, ist aus rechtlicher und humanitärer Perspektive inakzeptabel“, sagt Starke. „Es ist offener Völkerrechtsbruch.“

Das zentrale Mittelmeer als „Blackbox“

Wie es jetzt weitergeht? Wegen der Ausnahmesituation im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verzichtet SOS Méditerranée selbst momentan auf seine lebensrettenden Operationen mit dem Schiff „Ocean Viking“. Den Preis für die generell zum Erliegen kommende Seenotrettung müssten schutzsuchende Menschen mit ihrem Leben bezahlen, gibt Starke zu. Die „Ocean Viking“ hatte zuletzt am 23. Februar 276 Gerettete zum sizilianischen Hafen Pozzallo gebracht und war dort in Quarantäne genommen worden. Diese ist inzwischen beendet. Derzeit liegt das Schiff im Hafen von Marseille.

Starke sagt: „Seit die EU und ihre Mitgliedstaaten sich komplett aus der Seenotrettung zurückgezogen haben und es humanitären Organisationen immer schwerer machen, vor Ort lebenswichtige Hilfe zu leisten, bleiben den Migranten und Flüchtenden, die vor den Menschenrechtsverletzungen in Libyen fliehen, genau zwei Möglichkeiten: zu ertrinken oder von der EU-finanzierten libyschen Küstenwache gegen ihren Willen nach Libyen in den Kreislauf aus Gewalt und Ausbeutung zurückgebracht zu werden.“

Europa schaue weg „und das zentrale Mittelmeer wird zur Blackbox“, erklärt der Geschäftsführer von SOS Méditerranée Deutschland. „Niemand ist mehr vor Ort, um unabhängig zu berichten, was dort passiert, wie viele Menschen in Seenot geraten und wie viele Menschen tatsächlich sterben.“ Allein am Osterwochenende seien im zentralen Mittelmeer um die 250 Menschen in Seenot geraten. Tagelang sei kein europäischer Staat zur Hilfe gekommen, obwohl die dramatische Situation bekannt gewesen sei war.

„Und das sind nur die bekannten Fälle“, fügt Starke hinzu. „Die Dunkelziffer der Menschen, die ertrinken, dürfte weitaus höher sein. Die Menschen sterben ungehört und ungesehen. Das ist eine menschliche Tragödie, die nur schwer auszuhalten ist und die für die Friedensnobelpreisträgerin EU unwürdig ist. Wir dürfen das als europäische Zivilgesellschaft nicht zulassen. Leben retten ist Pflicht, auch auf dem Mittelmeer.“

Matthias Meisner

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