Was sich aus Flüchtlingspolitik lesen lässt: Wir Feudalherren im Norden der Welt
"Die Fremden sind unser Unglück" - das ist der Leitgedanke der Migrationspolitik. Dabei ist dieser Satz das eigentliche Unglück. Ein Kommentar.
Null. So viele Menschen hat Deutschland in den etwa vier Monaten von Rettungsschiffen übernommen, seit das Abkommen von Malta gilt. Am 23. September hatte man sich mit Malta, Italien und Frankreich geeinigt, aus Seenot gerettete Flüchtlinge künftig rasch zu verteilen. Wenigstens für jenen verschwindend kleinen Teil der Geflüchteten sollte eine schnelle Lösung her, deren Leben durch NGO-Schiffe gerettet wurden, die dann aber teils wochenlang nicht an Land durften – was, nebenbei, immer wieder hässliche Bilder lieferte und Europas Öffentlichkeit empörte.
Selbst da wo es Rechte gibt, werden sie nicht umgesetzt
Von einem „Notfallmechanismus“ war die Rede. Ergebnis: Null. Diese eine Ziffer erzählt im Grunde die ganze traurige Geschichte und Philosophie der deutschen – und europäischen – Migrationspolitik, deren Kern ist: Selbst da, wo Gesetze und staatliche Garantien anderes wollen oder ein Grüppchen von Staaten sich auf Pragmatismus geeinigt hat, wird die gute Absicht in der Praxis, den Mühlen der Behörden, in den Verwaltungsvorschriften bald zuschanden. Für Malta stehen vor der schnellen Verteilung deutsche Sicherheits- und Identitätsprüfungen am Ort der Landung – was eigentlich Sache eines geordneten Verfahrens im Aufnahmeland ist, nicht vor dessen Grenzen. Wie hier, so anderswo in der Migrationspolitik. Auf diesem Feld ist Papier besonders geduldig. So darf sich zum Beispiel seit Jahren von Gesetzes wegen jede und jeder hierzulande sechs Monate lang nach Arbeit umsehen. Es genügt der Nachweis, dass man seinen Lebensunterhalt in dieser Zeit decken kann. Die Praxis: Es braucht dafür ein Visum, auf das man je nach Weltgegend Jahre warten kann. Selbst wer es hat und alle Versicherungen und Unterlagen beisammen, kann noch an der deutschen Grenze abgewiesen werden. Aktuell warten weltweit 23.000 Familienangehörige von nach Deutschland Geflüchteten darauf, auch nur einen Termin bei einer deutschen Auslandsvertretung zu bekommen. In langen Verfahren werden Kinder oft zu groß, um noch zu ihren Familien in Deutschland zu dürfen.
Die Beispiele vor der Grenze sind endlos, doch auf deutschem Boden enden sie nicht. Wer sich mit Menschen aus dem Süden der Welt unterhält, erfährt, dass selbst denen, die in Deutschland inzwischen einen Anspruch auf Einbürgerung haben, nicht garantiert ist, dass die Behörde sie auch wirklich einbürgert. Dass es Regeln für die Niederlassung gibt, dass aber, sagen wir, eine Nordafrikanerin sie nicht selten erst einklagen muss.
Europäischer Pass ist ein Privileg wie früher das von Adligen
„Die Fremden sind unser Unglück“ – das ist der Satz, der hinter all der Abwehr, den Schikanen, dem Aussitzen steckt, hinter dem schwindelerregenden und teuren Ausbau von Grenzsicherung und Verhinderungsbürokratien. Er zerstört nicht allein Leben und Chancen dieser angeblich Anderen – die tatsächlich oft längst Teil des Wir sind. Er ist auch ein Unglück für die, denen er, womöglich unbewusst, im Kopf steckt. Viel zu viel von ihrem, von unser aller (Steuer-)Geld, von Ideen und politischer Energie in diesem Land wird abgezweigt für den untauglichen Versuch, Migration abzuwehren – also sprichwörtlich das Wasser bergauf fließen zu lassen. Statt all das in die Gestaltung einer Gesellschaft der Zukunft zu stecken.
Sie ist ja bereits Wirklichkeit, trotz jener vergifteten Erzählung. Der jährlich steigende Migrantenanteil an der deutschen Bevölkerung ist da nur ein Indiz.
Einen Vorschlag zum Umprogrammieren des populären Abwehrnarrativs hat vor mehr als 30 Jahren schon Joseph H. Carens formuliert. Der inzwischen klassische Aufsatz des Professors für politische Theorie, „Fremde und Bürger“ von 1987, bestreitet radikal „unser“ angebliches Recht: Staatsbürger in einer Demokratie des globalen Nordens zu sein, sei „das moderne Äquivalent feudaler Privilegien – ein vererbter Status, der die Lebenschancen massiv verbessert“. Wer hingegen in einem armen Land geboren werde, sei wie einst Bauern im Mittelalter an seine Scholle gezwungen, statt anderswo sein Glück suchen zu können. Auch wenn eine Welt ohne Grenzen absehbar noch nicht nahe sei: Rechtfertigen, sagt Carens, könne man Grenzen nicht, ebensowenig wie die Privilegien von Adel und Klerus im 18. Jahrhundert noch zu rechtfertigen waren.
Man könnte die Grenzen fürs erste durchlässiger machen. Vor 230 Jahren hat eine große Revolution mitten in Europa Schluss gemacht mit den Erbvorrechten der Privilegierten. Wie sähe ein globales 1789 aus? Vermutlich nicht gut für die Privilegierten. Vielleicht sollten der erste und zweite Stand von heute schon aus Eigeninteresse langsam anfangen, mit dem dritten zu teilen.