"Mutter aller Probleme": Seehofer testet die Schmerzgrenze der SPD - und nicht nur ihre
Nach seiner Äußerung zur Migrationsfrage fordern SPD-Politiker Seehofers Rücktritt. 63 Prozent fürchten laut Umfrage eine Überforderung durch Flüchtlinge.
Innenminister Horst Seehofer stellt die große Koalition vor eine neue Belastungsprobe. Jüngste Äußerungen des CSU-Vorsitzenden zur Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik lösten am Donnerstag empörte Reaktionen der SPD aus. Deren stellvertretende Vorsitzende, die bayerische Spitzenkandidatin Natascha Kohnen, forderte Seehofers Rücktritt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ging dagegen nur vorsichtig auf Distanz zu ihrem Minister. Beide hatten sich zu Beginn des Sommers einen wochenlangen Machtkampf über die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze geliefert. Am Streit der Unionsparteien, in dessen Verlauf der Innenminister mit Rücktritt drohte, wäre die große Koalition beinahe zerbrochen.
Rund fünf Wochen vor der bayerischen Landtagswahl, bei der die CSU den Verlust ihrer absoluten Mehrheit fürchten muss, legte Seehofer nun nach. Bei einer Klausurtagung der CSU-Landesgruppe sowie in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ machte er die Zuwanderung pauschal für das angespannte politische Klima verantwortlich. Deutschland sei „ein gespaltenes Land“, sagte er. Ursache dafür sei zwar nicht allein die Flüchtlingspolitik. „Aber die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land.“
Außerdem erklärte Seehofer zu den Chemnitzer Protesten nach der Tötung von Daniel Hillig, für die Asylbewerber verantwortlich gemacht werden, er wäre „als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen - natürlich nicht gemeinsam mit Radikalen“. In Chemnitz war es zu rechtsextremen Ausschreitungen und zum Schulterschluss von AfD, Pegida und Hooligans gekommen.
Merkel reagiert ausweichend
Merkel, die offenbar einen neuen Machtkampf mit der CSU verhindern will, reagierte ausweichend auf Seehofers neuerlichen Affront. „Ich sage das anders. Ich sage, die Migrationsfrage stellt uns vor Herausforderungen“, erklärte sie bei RTL. Dabei gebe es „auch Probleme, dabei gibt es auch Erfolge“.
Führende SPD-Politiker gingen hart mit Seehofer ins Gericht. Parteivize Kohnen sagte, es sei unerträglich, dass er die Ausschreitungen in Chemnitz verharmlose. Dies mache ihn als Innenminister unhaltbar.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte dem Tagesspiegel: „Zehntausende demonstrieren dieser Tage in Chemnitz, Berlin und anderen Städten Deutschlands für Toleranz und Weltoffenheit, um Solidarität und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Sie beweisen: Wir sind viele! Gleichzeitig bezeichnet der bayerische Ministerpräsident Söder die Hauptstadt aller Deutschen als Resterampe und ausgerechnet Innenminister Seehofer grenzt Millionen unserer Nachbarn aus. Derartige Ausfälle - Bayerischer Wahlkampf hin oder her - sind eine Belastung für unser Land", sagte Müller. "Wer in diesen Zeiten aus einem Regierungsamt heraus ausgrenzt und populistisch zündelt, ist im jetzt nötigen Einsatz für Demokratie und Toleranz Teil des Problems. Wenn Horst Seehofer, aber auch Markus Söder nicht ihrer politischen Verantwortung gewachsen sind, die Werte unseres Grundgesetzes zu vertreten und die Würde aller Menschen zu respektieren, dann sollen sie Platz machen. Die gesamte Union und die Kanzlerin sind gefordert klar zu machen: Damit muss Schluss sein.“
Fraktionsvize Karl Lauterbach bezeichnete Seehofers Äußerungen als „Unverschämtheit und Schande“. Die Behauptung, Migration sei die Mutter aller politischen Probleme, komme einem „Angriff auf Generationen von Migranten in Deutschland“ gleich, sagte er dem Tagesspiegel. Kanzlerin Merkel müsse nun öffentlich „klarstellen, dass wohlintegrierte Migranten bei uns willkommen sind“. Der Sprecher der Parlamentarischen Linken (PL) in der SPD, Matthias Miersch, brachte eine Entlassung Seehofers ins Spiel. Wenn der Innenminister erneut versuche, die Regierungsarbeit „durch völlig wirre Aktionen zu blockieren, muss sich die Kanzlerin die Frage stellen, wann sie ihm die rote Karte zeigt", sagte er. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider warnte, ein neuer Unionsstreit werde die Handlungsfähigkeit der großen Koalition beeinträchtigen. „Wenn Frau Merkel es erneut zulässt, dass die CSU und Horst Seehofer die Machtfrage in der Union stellen, behindert das die Arbeitsfähigkeit der Regierungskoalition“, sagte Schneider dieser Zeitung.
Dass die Flüchtlingspolitik die Bürger weiter umtreibt, zeigen neue Umfragen. Nach einer Erhebung für die R+V-Versicherung zu den Ängsten der Deutschen im Jahr 2018 fürchten sich 63 Prozent vor einer Überförderung der Behörden durch Flüchtlinge. Ebensoviele haben Angst vor „Spannungen durch Zuzug von Ausländern“. Dem ARD-Deutschlandtrend zufolge zieht eine knappe Mehrheit der Befragten eine negative Bilanz der Flüchtlingspolitik. Sie bewerten die Unterbringung und Verteilung der Migranten als eher schlecht oder sehr schlecht.