Viele Infektionen, neues Pandemiegesetz: Schwedens Scheitern – der Sonderweg führt in die Sackgasse
Die zweite Welle trifft Schweden mit voller Wucht. Die Regierung hat seit heute per Gesetz neue Vollmachten, auch für Lockdowns. Ob es dazu kommt, ist unklar.
Die Kritik war vernichtend – und sie kam von ganz oben. „Ich denke, dass wir gescheitert sind“, sagte Schwedens König Carl XVI. Gustaf zur Strategie seines Landes in der Coronavirus-Pandemie eine Woche vor Weihnachten im Fernsehen.
„Viele Menschen sind gestorben, das ist furchtbar. Das schwedische Volk hat enorm gelitten.“ Der 74-jährige Monarch brach mit seinem Statement ein Tabu: Normalerweise hält sich das Könighaus aus dem politischen Tagesgeschäft heraus.
Nun modifiziert Schweden seinen Kurs. Die rot-grüne Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven brachte am Freitag ein Pandemiegesetz durch den Reichstag, das ihr neue, bisher nicht vorhandene Vollmachten im Kampf gegen die Pandemie verleiht.
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Dass Stockholm nun noch ein wenig weiter von seinem im Ausland oft als „schwedischer Sonderweg“ bezeichneten Kurs abrückt, liegt kaum am Rüffel des Königs. Grund ist vielmehr, dass auch Schweden das Infektionsgeschehen nicht in den Griff bekommt. Die Lage ist sogar deutlich dramatischer als bei den Nachbarn Norwegen und Finnland und in anderen europäischen Staaten. Kliniken sind an der Belastungsgrenze, es fehlt Personal.
Der skandinavische Staat mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern verzeichnet inzwischen 9433 Covid-19-Tote und fast 489.500 bestätigte Infektionen, seit dem Ausbruch der Pandemie. Die 14-Tage-Inzidenz liegt in Schweden bei 785, in Deutschland beträgt sie 319.
An Weihnachten wurde auch in Schweden die offenbar deutlich ansteckendere Virusvariante aus Großbritannien nachgewiesen. Gleichzeitig begannen am 27. Dezember in dem nördlichen EU-Land die Impfungen mit dem Präparat von Biontech/Pfizer. Auch in Schweden sollen zunächst ältere Menschen, Angehörige von Risikogruppen und Personal in Pflegeheimen und im Gesundheitssektor geimpft werden. Ziel ist nach Angaben der Regierung, allen Erwachsenen und Kindern, die einer Risikogruppe angehören, in der ersten Jahreshälfte 2021 eine Impfung anzubieten.
Das neue Gesetz, das Sonntag in Kraft tritt und zunächst bis September befristet ist, gibt der Regierung nun die juristische Grundlage für Lockdown-Maßnahmen, die sie bisher nicht hatte. Wer gegen die Anordnungen verstößt, muss mit Geldbußen und anderen Strafen rechnen.
Geschäfte können nun vom Staat geschlossen werden
Das Gesetz sieht die Möglichkeit zur Schließung von Geschäften und Einkaufszentren und die Stilllegung öffentlicher Verkehrsmittel vor. Fitnessstudios, Geschäfte und andere Einrichtungen müssten eine maximale gleichzeitige Besucherzahl berechnen, sagte Gesundheits- und Sozialministerin Lena Hallengren. Je zehn Quadratmeter ist nur noch ein Besucher zulässig.
Die Teilnehmergrenze für öffentliche Zusammenkünfte bleibe bei acht Personen, sagte Löfven. Ab Sonntag gelte dies jedoch auch für private Veranstaltungen, die etwa in Partyräumen oder anderen vermieteten Räumlichkeiten stattfinden.
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Bereits seit Weihnachten gelten weitere Einschränkungen. Die Gastronomie bleibt unter Auflagen geöffnet. Aber in Restaurants dürfen nur maximal vier Gäste an einem Tisch sitzen. Der Verkauf von Alkohol ist ab 20 Uhr verboten.
Zudem wurde der Fernunterricht für weiterführende Schulen bis zum 24. Januar verlängert. Kindergärten sind nach wie vor geöffnet, an den meisten Schulen gibt es bis zur 7. Klasse Präsenzunterricht.
Entgegen der bisherigen Strategie des Staatsepidemiologen Anders Tegnell von der Gesundheitsbehörde FHM, der in der Pandemie bisher den Kurs bestimmte, wurde am 18. Dezember erstmals auch das Tragen von Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln zu Stoßzeiten empfohlen.
Tegnell hatte trotz zahlreicher Studien immer wieder betont, der Nutzen von Mund-Nasenschutz sei nicht wissenschaftlich belegt. FHM-Chef Johan Carlson sagte zu der Empfehlung: „Wir glauben nicht, dass es eine entscheidende Wirkung hat, aber in dieser speziellen Situation kann es einen positiven Effekt haben.“
Premier Löfven hält sich nicht an eigenen Ratschlag
Vor Weihnachten wurden die Schweden auch aufgerufen, auf nicht notwendige Einkäufe sowie Reisen zu verzichten. Ausgerechnet Premier Löfven hielt sich dann nicht an seinen eigenen Ratschlag: Er wurde in einer Shopping-Mall fotografiert, die Boulevardzeitung „Expressen“ zeigte die Bilder.
Zuvor hatte Löfven gesagt: „Ich hoffe und glaube, dass die Menschen erkennen, dass dies ernst ist.“ Erwischt wurde auch Zivilschutzchef Dan Eliasson. Er war auf die Kanarischen Inseln geflogen, um mit seiner dort lebenden Tochter Weihnachten zu feiern.
Die Vorkommnisse blieben nicht ohne Folge. In einer Anfang Januar veröffentlichten Umfrage zeigte sich, dass das Vertrauen der Schweden in ihre Regierung spürbar nachgelassen hat. Demnach sagten 42 Prozent, dass sie „sehr wenig“ Vertrauen zu Löfven haben – zehn Prozentpunkte mehr als im Dezember.
Die Regierung und Tegnell hatten bei der Bekämpfung seit Ausbruch der Pandemie auf einen weniger restriktiven Weg und mehr auf Appelle und die Vernunft der Bürger gesetzt. So sollten Gesellschaft und Wirtschaf geschont werden. Die Schweden wurden aufgefordert, soziale Kontakte zu minimieren, bei Symptomen zu Hause zu bleiben und generell im Homeoffice zu arbeiten.
Viele Tote bereits in erster Welle
Bereits die erste Welle im Frühjahr traf das Land hart. Im internationalen Vergleich war die Zahl der Covid-19-Opfer bezogen auf die Einwohnerzahl bereits sehr hoch. Wie in anderen Staaten auch starben besonders viele ältere Menschen an Covid-19. Ältere besonders zu schützen – dieser Teil von Tegnells Strategie war auf dramatische Weise gescheitert, wie er selbst eingestanden hat.
Covid-19-Tote/bestätigte Infektionen pro Million Einwohner (Quelle: Sveriges Television/Johns Hopkins-Universität):
- USA 1127/21.862.782
- Großbritannien 1203/44.613
- Italien 1289/37.032
- Frankreich 1009/41.870
- Spanien 1100/43.883
- Deutschland 483/22.979
- Schweden 926/48.067
- Dänemark 262/30.906
- Finnland 106/6899
- Norwegen 89/10.251
Die Verantwortung für den Tod besonders vieler Pflegebedürftiger sah er allerdings bei den Kommunen, die formal verantwortlich sind.
Doch der erste Teilbericht einer von der Regierung eingesetzten Expertenkommission kam einer Ohrfeige für ihn und die Regierung gleich: „Der Pflegebereich war unvorbereitet und schlecht ausgerüstet, um eine Pandemie zu bewältigen“, heißt es in dem 300-Seiten-Bericht, der Mitte November veröffentlicht wurde.
„Für diese Versäumnisse trägt die jetzige Regierung, wie auch die früheren, die eindeutige Verantwortung“, lautet das Urteil der Sachverständigen. Der Corona-Abschlussbericht soll im Februar 2022 vorliegen.
Wissenschaftler kritisieren Tegnell
Tegnell ist für seinen Kurs immer wieder heftig kritisiert worden. Unter anderem wird ihm vorgeworfen, das Ziel in Schweden sei gewesen, auch ohne Impfung schnell die Herdenimmunität zu erreichen. Damit habe er bewusst das Leben vieler Menschen riskiert, so der Vorwurf auch von rund 40 Forschern, die sich im Schwedischen Wissenschaftsforum Covid-19 zusammengeschlossen haben.
Tegnell wie auch die Regierung beteuern immer wieder, dies sei nicht ihr Ziel gewesen. Allerdings wurden interne Emails zwischen Tegnell und anderen Wissenschaftlern publik, die klar aufzeigen, dass das Konzept der Herdenimmunität durch Infektion die Grundlage der Entscheidungen war.
Diese Frage sei in Schweden bisher nicht aufgearbeitet worden, kritisiert auch Claudia Hanson, Gründungsmitglied des Wissenschaftsforum Covid-19. Sie ist Associate Professor im Department für Global Public Health am Karolinska Institutet Stockholm sowie am London School of Hygiene and Tropical Medicine.
Hanson wirft Tegnell und der FHM unter anderem vor, sich einem Diskurs mit anderen Wissenschaftlern zu verweigern und glaubt nicht, dass die Regierung so weitreichende Entscheidungen treffen wird, wie sie das neue Gesetz erlaubt.
Hanson sagte dem Tagesspiegel, ein Kurswechsel müsse wissenschaftlich untermauert werden. Es gebe in Schweden aber zum Beispiel keinen Ethikrat oder sonstige formal berechtigte Gruppen, denen vertraut werde.
„Somit sehe ich nicht, dass sich viel ändert. Das könnte nur geschehen, wenn man gleichzeitig ein weiteres nationales Gremium von Wissenschaftlern schafft, das unabhängig von der staatlichen Gesundheitsbehörde ist – man also Diversity zulässt“, sagte Hanson.
Kommt es tatsächlich zu Lockdowns?
Ob die Regierung die nun möglichen Maßnahmen tatsächlich anordnet, ist unklar. Einen Lockdown wie in anderen Ländern hatte Löfven vor Weihnachten noch als „zu große Belastung“ für die Bevölkerung abgelehnt.
[Wissenschaftler klagen an: „Schwedens Corona-Strategie hat Tausende unnötig das Leben gekostet“. Lesen Sie hier das Interview (+)]
Auf die Frage, warum die Regierung den Kurswechsel erst zehn Monate nach Beginn der Pandemie vollziehe, antwortete Gesundheits- und Sozialministerin Hallengren am Freitag, im Frühjahr habe die Regierung noch keine Notwendigkeit für schärfere Gesetze gesehen.
Die Bevölkerung habe durch ihr Verhalten dazu beigetragen, die Ausbreitung des neuartigen Virus einzudämmen. Im Sommer seien die Infektionszahlen niedrig gewesen und im Herbst habe dann die Arbeit an dem Gesetzesvorhaben begonnen. Damals hatte Tegnell auf die Frage, ob Schweden eine zweite Welle fürchten müsse, noch kurz und knapp geantwortet: „Nein.“