Coronavirus-Risikoland auf dem Prüfstand: Schweden will „Wahrheit“ über Gründe für viele Tote herausfinden
Die Infektionszahlen sind noch immer hoch, es gibt viele Covid-19-Tote. Woran liegt es? Ein erster Bericht sieht einen Mangel an „Planung auf oberster Ebene“.
Schwedens Regierung hat aus der Kritik am Umgang mit der Coronavirus-Pandemie erste Konsequenzen gezogen und Untersuchungen eingeleitet. Eine sechs- bis achtköpfige Kommission soll Experten aus dem Gesundheits- und Pflegesektor, sowie Fachbereichen wie Verwaltungs- und Volkswirtschaft, Ethik und Krisenlehre angehören.
Zudem soll auch die staatlich finanzierte Agentur für Verteidigungsforschung (FOI) die von der rot-grünen Minderheitsregierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven und den lokalen Behörden unternommenen Schritte zur Eindämmung der Pandemie bewerten. Dieser werden dann mit den Maßnahmen anderer Länder verglichen.
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Zwar soll der Abschlussbericht erst im Februar 2022 vorgelegt werden. Zuvor soll es aber zwei vorläufige Berichte geben. Von der Opposition wird der Umgang der Regierung mit der Pandemie heftig kritisiert. Sie drängte deshalb auch darauf, dass die Kommission vor den nächsten Parlamentswahlen im September 2022 Bericht erstattet.
Ministerpräsident Löfven sagte: „Es wurden Mängel in unserer Gesellschaft offenbar.“ Zu viele Menschen seien gestorben. Man hoffe, „die Wahrheit über die zugrundeliegenden Ursachen“ herausfinden. „Wir haben der Kommission einen breit angelegten Auftrag erteilt, der sehr viele Aspekte beleuchten soll. Das wird Zeit brauchen, aber die Kommission wird uns wichtige Schlussfolgerungen liefern“, sagte Löfven.
Der erste Teilbericht, am 30. November, wird sich mit der Ausbreitung des Virus in Gesundheitszentren und Altersheimen befassen. Bis zum 24. Juni waren nach Angaben des Nationalen Gesundheitskomitees 3612 Menschen im Alter von 70 Jahren oder mehr, die in Pflegeheimen lebten oder häusliche Pflege erhielten, an Covid-19 gestorben. Das entspricht 79 Prozent aller bis zu diesem Datum registrierten Todesfälle in dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern. Ein Besuchsverbot für Senioren- und Pflegeheime war erst Anfang April erlassen worden.
Nach offiziellen Angaben wurden seit Beginn der Pandemie bisher mehr als 70.000 Infektionen nachgewiesen, mehr als 5.400 Menschen starben. Die Zahl der positiven Tests ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO mit 12 bis 13 Prozent recht hoch. Daher hatte die WHO Schweden vergangene Woche als Risikoland eingestuft.
Mit 531 Toten pro eine Million Einwohner liegt Schweden den Zahlen der Johns-Hopkins-Universität zufolge deutlich vor den USA (393) und verzeichnet wesentlich mehr als die Nachbarstaaten Norwegen (47), Dänemark (104), Finnland (59) oder auch Deutschland (108).
Aufgrund der relativ hohen Infektionsraten in Schweden die schwedischen Bürger in diesem Sommer in viele Länder nicht reisen, auch nicht in die skandinavischen Nachbarstaaten. Wer aus Deutschland in Schweden Urlaub macht, muss danach in Quarantäne.
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Deutschland hat zudem eine Reisewarnung vor Urlaubsreisen nach Schweden ausgesprochen. „Vor nicht notwendigen, insbesondere touristischen Reisen nach Schweden wird weiterhin gewarnt, da Schweden die Neuinfiziertenzahl von weniger als 50 Fällen pro 100.000 Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen überschreitet“, heißt es auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Regionale Schwerpunkte liegen derzeit im Großraum Stockholm mit den angrenzenden Regionen sowie in den Regionen Västra Götaland, Jönköping und Norrbotten.
Bereits am Mittwoch hatte die Agentur FOI einen Bericht vorgelegt, in dem 16 Wissenschaftler eine mangelnde Vorbereitung Schwedens auf die Corona-Krise beklagten. „Die Corona-Pandemie hat die gesamte schwedische Gesellschaft getroffen wie keine andere Krise der Nachkriegszeit“, stellen sie in dem Bericht fest.
Dabei habe es mehrere „Warnschüsse“ gegeben. Trotz der Erfahrung anderer Epidemien wie Sars, der Vogelgrippe und der Schweinegrippe habe es in Schweden wie auch in anderen Ländern „eine unvollständige Vorbereitung gegeben, als die Corona-Pandemie einschlug“, schreiben die FOI-Experten.
Die Corona-Pandemie habe Schwächen im schwedischen Krisenmanagement und der „Robustheit der Bevölkerung ans Licht gebracht“. Die Autoren des Berichts kritisierten auch einen Mangel an Intensivbetten, unzureichende Schutzbekleidung sowie fehlende medizinische Ausrüstung. Unterbrechungen in den Lieferketten deuteten demnach zudem auf einen Mangel an „Planung auf oberster Ebene“ hin.
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FOI-Generaldirektor Jens Mattsson sagte, mit Blick auf die Pandemie könne man noch keine Entwarnung geben, um dann den ehemaligen britischen Premier Sir Winston Churchill aus dem Jahr 1942 zu zitieren: „Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.“
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Die eingesetzte Kommission soll von Mats Melin, ehemaliger Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts und Ex-Chefombudsmann, geleitet werden. „Es ist natürlich eine Herausforderung, dies in dieser begrenzten Zeit zu schaffen“, sagte Melin der Zeitung „Dagens Nyheter“. Es könne zudem nicht ausgeschlossen werden, dass das, was in Schweden und anderen Ländern im Sommer und Herbst geschehe „ein neues Licht auf Dinge wirft, während wir als Kommission arbeiten“.
Schweden war in der Pandemie einen anderen Weg gegangen als die meisten anderen Staaten. Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der die Regierung berät, hatte einen Lockdown für Schweden stets abgelehnt. So setzen Regierung und die Gesundheitsbehörde seit Beginn der Krise mehr auf Appelle als Verbote. Sie forderten die Bürger auf, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten.
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Menschen über 70 sollten zu Hause bleiben. Kindergärten und Schulen für Kinder unter 16 Jahre waren bis zu den Ferien, die seit dem 10. Juni und noch bis Mitte August andauern, in Betrieb. Geschäfte sind geöffnet. Dies gilt unter Auflagen auch für die Gastronomie. Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt. Die Menschen sollen im Homeoffice arbeiten und bei Symptomen auf jeden Fall zu Hause bleiben.
Dass besonders ältere Menschen durch das Coronavirus gefährdet sind, war in der Pandemie relativ schnell klar. Eines der wichtigsten Ziele der schwedischen Strategie war daher, Ältere besonders zu schützen. Tegnell hatte zuletzt sehr deutlich seine Einschätzung geäußert, dass dieser Teil der Strategie gescheitert sei. Die Todesrate in den Heimen sei „schrecklich“, sagte der 64-Jährige.