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Der Premierminister von Schweden: Stefan Löfven.
© Henrik Montgomery/TT News Agency/dpa

Besuchsverbot, Kontaktbeschränkung, Sperrstunde: Schweden rückt notgedrungen von seinem Sonderweg ab

Die zweite Corona-Welle rollt auch durch Schweden. Die Sorge vor einer Wiederholung der Lage aus dem Frühjahr wächst. Die Auflagen werden schärfer.

So viele schwedische Flaggen wie im Jahr 2006 sind auf Deutschlands Straßen zwar nicht zu sehen. Damals fluteten blau-gelbe Fußball-Fans Berlin. Es waren Schweden, die die WM und ihr Team feierten. 2020 ist das gelbe Kreuz auf blauem Grund auf den Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen in Deutschland ein beliebtes Accessoire – weil das EU-Land im Norden mit seinem liberalen Kurs für einen aus Sicht vieler Corona-Leugner sinnvolleren, vernünftigeren Weg in der Pandemie steht.

Doch vielleicht ist es damit jetzt vorbei, denn die schwedische Regierung schränkt angesichts der rapide steigenden Infektionszahlen und Covid-19-Todesfälle den weltweit bestaunten, aber auch scharf kritisierten liberalen Weg immer weiter ein.

Am Freitag meldete die Gesundheitsbehörde FHM mit ihrem Staatsepidemiolgen Anders Tegnell 7240 Neuinfektionen – ein neuer Höchststand. Die bis dato höchste Zahl von neuen Infektionen wurde Anfang des Monats mit 5990 verzeichnet. Zudem gab es seit Donnerstag 66 weitere Todesfälle. Damit registriert das Land insgesamt nun 6406 Covid-19-Tote und 208.295 bestätigte Infektionen.

Zwar hat auch Schweden die Zahl der Tests deutlich erhöht, so dass mehr Fälle erfasst werden, aber auch andere Indikatoren wie beispielsweise die Positivrate zeigen ein hohes Infektionsgeschehen.

Dass Schweden pro eine Million Einwohner mit 623 eine weitaus höhere Zahl an Covid-19-Toten zu beklagen hat als sogar Deutschland (165) – besonders weil das Virus im Frühjahr ungebremst in Pflegeheimen wüten konnte – interessierte „Querdenker“ & Co. in Deutschland nicht.

Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven befürchtet nun, dass sich die Ereignisse des Frühjahrs wiederholen könnten, denn alles deutet darauf hin, dass die zweite Welle das Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern mit voller Wucht trifft – ganz entgegen der Prognosen Tegnells. Der hatte noch Ende Oktober gesagt: „Es gibt keine zweite Welle.“

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Tegnell gibt bisher den Weg des Landes in der Pandemie vor, hat einen Lockdown für Schweden wie in den Nachbarländern oder Deutschland immer abgelehnt und weigert sich nach wie vor, das Tragen von Masken zu empfehlen. Deren Nutzen sei wissenschaftlich nicht erwiesen, so seine Argumentation.

Löfven teilte nun als eine weitere Maßnahme mit, dass die FHM mit der Möglichkeit ausgestattet werde, Besuchsverbote in Heimen wieder einzuführen. „Das Leben von Menschen steht ganz einfach auf dem Spiel“, sagte Löfven in Stockholm. Es handele sich um eine sehr eingreifende und weitreichende Maßnahme, die deshalb nur dort eingeführt werden solle, wo sie wirklich gebraucht werde.

Für die allerengsten Angehörigen der Heimbewohner solle es Ausnahmen geben. Sozialministerin Lena Hallengren ergänzte, ein Verbot auf nationaler Ebene sei nicht notwendig, da das Infektionsgeschehen im Land sehr unterschiedlich sei.

Der schwedische Staatsepideiologe Anders Tegnell.
Der schwedische Staatsepideiologe Anders Tegnell.
© Jonas Ekstromer/TT News Agency/Reuters

Von Anfang April hatte in ganz Schweden ein Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen gegolten; angesichts der im Sommer entspannt wirkenden Corona-Lage hatte die Regierung dies zum 1. Oktober aufgehoben. Es war es war eine der striktesten Auflagen in Schweden gewesen.

Ansonsten hatten Regierung und Tegnell es weitgehend bei Empfehlungen belassen und an die Vernunft der Schweden appelliert. So sollten die Menschen bei Krankheitssymptomen zu Hause bleiben, generell im Homeoffice arbeiten, Abstand halten und die Hygieneratschläge befolgen.

Staatsepidemiologe hat sich offenbar geirrt

Es galten zwar noch ein paar andere Beschränkungen, aber im Vergleich zu allen anderen Ländern waren die relativ moderat. So gingen Kinder bis zur 9. Klasse weiter zur Schule, Restaurants und Geschäfte blieben geöffnet, Versammlungen und Veranstaltungen bis zu erlaubt. Für Kinos, Konzerte, Theater und Sportveranstaltungen mit gewissen Sitzplatzkapazitäten galten seit wenigen Wochen Ausnahmen von bis zu 300 Teilnehmern.

[Die schwedische Strategie wird auch von einer Gruppe Wissenschaftler im Land scharf kritisiert. Lesen Sie hier im Interview ihre Vorwürfe und Forderungen (T+)]

Tegnell hatte im Frühjahr ganz offenbar darauf gesetzt, dass man das Coronavirus in Schweden in den Griff bekomme, wenn ein ausreichender Teil der Bevölkerung nach einer Infektion immun werde und gleichzeitig die Risikogruppen geschützt würden. Das letzterer Teil der Strategie gescheitert ist, hat der Staatsepidemiolge mehrfach zugegeben, die vielen Covid-19-Toten in den Heimen seien „schrecklich“. Das aktuelle Infektionsgeschehen lässt nun darauf schließen, dass sich der 64-Jährige auch im anderen Punkt geirrt haben dürfte.

Stützt Löfven den Kurs von Tegnell nicht mehr?

Löfven und Tegnell bescheinigten den Schweden bisher, sich im Großen und Ganzen an die Vorgaben zu halten. Tegnell bekräftigte am vergangenen Freitag gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass es in Schweden keinen Lockdown geben werde. „Nein, wir bleiben auf diesem Weg“, sagte er demnach. „So läuft das bei uns in Schweden.“ Die freiwilligen Maßnahmen würden zum riesigen Teil umgesetzt.

Offenbar zeichnet sich hier nun ein Dissens mit Premier Löfven ab, der Tegnell bisher immer sein vollstes Vertrauen aussprach. Anders als im Frühling würden sich immer weniger Bürger in Schweden an die Empfehlungen halten, sagte Löfven nun. Ab dem 24. November sollen daher nun nur noch acht Menschen zusammenkommen dürfen. Die neue Maßnahme bezeichnete Löfven als „beispiellos“, sie sei aber notwendig geworden.

„Wir leben in einer Zeit der Prüfung. Es wird immer schlimmer werden. Tut eure Pflicht, übernehmt Verantwortung, um das Virus aufzuhalten“, sagte er gleich zweimal eindringlich an seine Landsleute gerichtet. Mit Ratschlägen und Empfehlungen sei man im Frühjahr weit gekommen, nun aber brauche es Verbote, um die Zahl der Infizierten zu senken. Man sende ein deutliches Signal an jeden Schweden, sagte Löfven.

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„Eine sehr einschneidende Maßnahme“, sagt der Premier

Die neuen Auflagen gelten für Versammlungen im öffentlichen Raum wie zum Beispiel für Sport- und Kulturveranstaltungen wie Kinos und Theater, aber auch Gottesdienste. „Dies ist eine sehr einschneidende Maßnahme, wie wir sie zu modernen Zeiten niemals hatten“, sagte Löfven.

Treffen in privaten Wohnungen werden durch die Regelung nicht eingeschränkt. Die Regierung in Schweden kann Versammlungen in privaten Räumen nicht untersagen. Aber Löfven rief die Bürger auch auf, sich in Bereichen stark einzuschränken, wo die Regel nicht gilt: „Geht nicht in die Sportstudios, geht nicht in die Büchereien, veranstaltet keine Partys, sagt alles ab.“ Die Maßnahmen sollen vorläufig vier Wochen lang gelten.

Weiterhin geöffnet bleiben in Schweden Kneipen, Bars und Restaurants. Die Gastronomen müssen allerdings schon länger darauf achten, dass pro Tisch nicht mehr als acht Gäste Platz nehmen.

Auch Schulschließungen nicht mehr ausgeschlossen

Auch die Schulen sollen weiter in Betrieb bleiben – zunächst. Sollten die Fallzahlen hoch bleiben, könne es nach den Weihnachtsferien aber zu Schulschließungen kommen, sagte Bildungsministerin Anna Ekström in einem Interview mit der Zeitung „Expressen“ . „Unsere Schulen sind nicht für die Pandemie gemacht.“ Kitas und Schulen geöffnet zu halten, ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil von Tegnells Strategie.

Die Regierung versuche mit den neuen scharfen Maßnahmen, „die Mitbürger wachzurütteln“, kommentierte die liberale schwedische Tageszeitung „Dagens Nyheter“. Die neue Regel klinge zwar lediglich wie die bürokratische Änderung einer Verordnung. „Aber historisch gesehen ist dies sehr bemerkenswert.“

Nun könne die Polizei gegen politische Versammlungen und Gottesdienste vorgehen. Dies schränke die Demokratie ein und beschneide die Religionsfreiheit. Und weiter: „Es ist ein schwerer Eingriff in die individuelle Freiheit, Kultur und Sport nicht ausüben zu dürfen.“

Kein Ausschank von Alkohol nach 22 Uhr

Zuvor hatte die Regierung vergangene Woche eine Sperrstunde für Betriebe mit einer Lizenz für Alkoholausschank erlassen. Bis Ende Februar dürfen Bars und Restaurants nach 22 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen. Um 22.30 Uhr müssen alle gastronomischen Einrichtungen, die Alkohol verkaufen, schließen.

Am Dienstag hatten Zahlen der Obersten Sozialbehörde des Landes untermauert, wie stark die Pandemie auch Schweden getroffen hat. Demnach waren den ersten sechs Monaten dieses Jahres rund zehn Prozent auf Covid-19 zurückzuführen. Damit war die durch das Corona-Virus ausgelöste Krankheit die dritthäufigste Todesursache, hieß es in einer Mitteilung.

Im ersten Halbjahr 2020 waren rund 51.500 Menschen in Schweden gestorben, 14.000 davon an Herz- und Kreislauferkrankungen, 11.600 an Tumoren und 5500 an Covid-19. Die Krankheit habe dazu beigetragen, dass die Sterblichkeit im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bei Frauen um zehn Prozent und bei Männern um 14 Prozent gestiegen sei, hieß es weiter. Im April sei Covid-19 sogar die häufigste Todesursache gewesen.

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