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Eine Demonstration gegen den türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Die Türkei führt dort auch mit deutschen Waffen Krieg.
© REUTERS/Kai Pfaffenbach
Exklusiv

Syriens Kurden schreiben Kanzlerin Merkel: „Schützen sie Nordsyrien vor der Vernichtung – bevor es zu spät ist“

Syriens kurdische Selbstverwaltung fordert, die Türkei müsse die Nato verlassen - und die EU ihre Zahlungen an Erdogan einstellen.

Die Regionalregierung der kurdischen Autonomiezone in Syrien appelliert an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), den türkischen Einmarsch doch noch zu stoppen. "Wir hoffen, dass die deutsche Bundesregierung zu den Akteuren zählt, die sich für den Frieden stark machen und die die demokratischen, multiethnischen Bestrebungen in Nord- und Ostsyrien vor der Vernichtung durch den türkischen Staat schützen, bevor es zu spät ist", heißt es in einem Brief des Deutschland-Vertreters Ibrahim Murad an die Kanzlerin, der dem Tagesspiegel vorliegt. Der Brief wurde bereits am Wochenende ans Kanzleramt geschickt.

"Konkrete Handlungsoptionen wären die Forderung einer Flugverbotszone, eine unverzügliche Aufkündigung aller Rüstungsexporte in die Türkei und sofortige Wirtschaftssanktionen", schreibt Murad. "Wir schlagen zudem eine Diskussion darüber vor, ob die Türkei wirklich die gemeinsamen Werte der Mitglieder des Nordatlantikpaktes teilt. Auch hoffen wir, dass alle Mitglieder der Europäischen Union die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sowie die Zahlung von EU-Fördermitteln an besagten Staat vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse neu bewerten."

Ibrahim Murad vertritt die Autonomieregion in Nord- und Ostsyrien in Berlin.
Ibrahim Murad vertritt die Autonomieregion in Nord- und Ostsyrien in Berlin.
© privat

Am Wochenende hieß es, Frankreich und Deutschland wollen die Türkei nicht unterstützen, wenn Erdogan die im Nato-Vertrag beschriebene Beistandspflicht einfordert: Türkische Truppen stehen in Syrien nicht nur leicht bewaffneten Kurden-Einheiten gegenüber, sondern auch der Armee der Zentralregierung von Baschar al Assad. Die Autonomieregion wird vom multiethnischen Militärbündnis SDF verteidigt, deren Hauptkraft die kurdische YPG ist. Die SDF-Führung rief Assad um Hilfe, als die US-Truppen die Region innerhalb weniger Tage verließen.

Ankaras Armee und protürkische Dschihadisten halten schon seit 2016, verstärkt seit 2018 Orte in Nordsyrien besetzt. An die Kanzlerin schreibt Murad weiter: "Bereits im Kanton Afrin hat sich gezeigt, welche Brutalität der türkische Staat gegen die Zivilbevölkerung an den Tag legt." Damit spielt der Gesandte auf die Lage in der Kurdenenklave Afrin in Nordwestsyrien an. Wie berichtet, hatte es dort massenhaft Vertreibungen, Plünderungen und Vergewaltigungen gegeben. Menschenrechtsverbände berichteten, Erdogan habe in Afrin arabische und turkmenische Syrer ansiedeln lassen. Zudem, teilten aus Afrin Geflohene mit, beherrschten Ankara-treue Dschihadisten dort das Alltagsleben.

Eine Demonstration gegen den türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Die Türkei führt dort auch mit deutschen Waffen Krieg.
Eine Demonstration gegen den türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Die Türkei führt dort auch mit deutschen Waffen Krieg.
© dpa/ Roessler

Die politische Führung der SDF hatte schon vor Wochen für einen Einsatz der Bundeswehr an der syrisch-türkischen Grenze plädiert. So sollte Ankara vom Angriff abgehalten werden. „Wenn deutsche Truppen in der Pufferzone patrouillieren, hätte das sicher einen positiven Effekt“, sagte Riyad Dirar dem Tagesspiegel. „Und sie könnten uns im Anti-IS-Kampf unterstützen.“ Dirar ist Vorsitzender des Demokratischen Syrien-Rats, dem politischen Arm der kurdisch-arabischen Militärallianz SDF, die bislang ein Drittel Syriens kontrollierte. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) will Verbündete für einen internationalen Stabilisierungseinsatz in Nordsyrien gewinnen.

Die Autonomieregion dort wird seit 2012 von der säkularen Kurdenpartei PYD mit assyrischen und arabischen Verbänden regiert. Die türkische Staatsführung um Recep Tayyip Erdogan bekämpft die PYD, die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahesteht. Die PKK führt seit den 80er Jahren einen Guerillakampf um kurdische Autonomie in der Türkei selbst. Syrische, türkische und auch irakische Kurden-Verbände waren im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) am engagiertesten.

Ein 19 Jahre alter Kämpfer der multiethnischen SDF wurde von türkischen Truppen verwundet. Die SDF ist die De-facto-Armee der Kurdenregion in Nordsyrien.
Ein 19 Jahre alter Kämpfer der multiethnischen SDF wurde von türkischen Truppen verwundet. Die SDF ist die De-facto-Armee der Kurdenregion in Nordsyrien.
© DELIL SOULEIMAN / AFP

"Wir müssen leider berichten, dass Ihre Sorgen, die Sie dem türkischen Präsidenten vermittelt haben, durchaus berechtigt sind", schreibt Murad weiter. "Es gibt seit Beginn der Militäroffensive bereits zahlreiche zivile Opfer, mehr als zweihunderttausend Menschen sind auf der Flucht. Aufgrund der Bombardierungen konnten über 750 Unterstützer des sogenannten Islamischen Staates aus Gefängnissen und Lagern fliehen. Die von der Türkei angeführte Invasion führt unweigerlich zu einer humanitären Katastrophe und nutzt letztendlich den dschihadistischen Terrormilizen, die sich im Chaos reorganisieren können."

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