In Nordsyrien rufen die Kurden Assad zur Hilfe: „Ich bleibe hier, auch wenn ich kämpfen muss!“
Sie verteidigten Nordsyrien gegen den IS, die Türkei - und das Regime in Damaskus. Nun aber scheint den Kurden der Diktator die letzte Rettung vor dem Genozid.
- Muhamad Abdi
- Hannes Heine
Als die Kampfpiloten ihre Bomben abwerfen und die Panzer die Dörfer besetzen, da ahnt Ismail H., dass sein Traum vom selbstbestimmten Leben wohl ein Traum bleiben wird. Ort für Ort erobern die türkischen Soldaten, immer tiefer dringen auch die mit ihnen verbündeten Islamisten vor, während Männer, Frauen und Kinder ins Landesinnere fliehen.
„Aber ich möchte kein Flüchtling sein“, sagt H. am Telefon, „sondern hier bleiben. Auch wenn ich kämpfen muss.“ Ismail H., 43 Jahre alt, ist syrischer Kurde. Mit Frau, drei Kindern, Schwester und Mutter lebt er in Kamischli, ist Jurist für die örtliche Telefongesellschaft. Kamischli ist die Hauptstadt der von Kurden dominierten Autonomieregion, die sie formal Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien nennen.
In diesen Tagen wiederum ist Kamischli das Zentrum des gesamten Syrienkrieges. Wer dort wen zu welcher Absprache wird zwingen können, dürfte die Nachkriegsordnung des Landes bestimmen. In Kamischli wird sich entscheiden, wie es mit all den Mächten weitergeht, deren Truppen in Syrien an Kämpfen beteiligt sind – den USA, den Türken, auch Russen und Iranern.
Syrer, Kurde, Familienvater: "Wir haben viel zu verlieren"
Seit die Amerikaner in der vergangenen Woche die mit ihnen verbündeten Kurden fallenließen und der Türkei so den Angriff auf die Autonomieregion ermöglichten, fehlt den Kurden die Schutzmacht. Die Weltgesundheitsorganisation spricht davon, dass 200.000 Frauen, Männer und Kinder auf der Flucht sind. „Wir haben viel zu verlieren“, sagt H., „wir können nicht zulassen, dass sie unser Projekt zerstören.“
Sie? In dieser Woche wird wahrscheinlicher, dass die Autonomie letztlich gar nicht vom türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan beendet wird, obwohl seine Truppen unablässig Posten der Kurden bombardieren. Sondern durch Syriens Herrscher Baschar al Assad, dessen Armee 2012 aus der Region abzogen.
Assad, ausgerechnet. Als der Krieg das Land zu zerreißen begann, bildete die säkulare Kurdenpartei PYD bewaffnete Milizen, die YPG, und übernahm in Nordsyrien die Kontrolle. Sie versuchte die sunnitischen Araber und die assyrischen Christen an der Macht zu beteiligten. Das klappte vielerorts, schließlich verwalten multiethnische, multireligiöse Räte die Region. Doch bis zuletzt hielten einige Araber zu den islamistischen Anti-Assad-Aufständischen und viele Christen zu Assad, in dessen einst laizistischer Diktatur sie sicher lebten.
Wird sich Erdogan durch Assad abschrecken lassen?
Die PYD gilt zudem als Schwesterverband der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die seit den 80er Jahren gegen die türkische Armee kämpft – einen kurdischen De-facto-Staat an seiner Südgrenze jedenfalls will Erdogan nicht dulden. Vor einigen Tagen startete er deshalb seinen dritten Syrien-Einmarsch, diesmal sollen PYD und YPG komplett vertrieben werden. Erdogan ist dafür bereit, sich mit den traditionellen Nato-Verbündeten zu überwerfen. Denn die YPG ist die bedeutendste Kraft in der kurdisch-arabischchristlichen Militärallianz SDF, die von den USA im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ aufgerüstet wurde und im Westen hohes Ansehen genießt.
Nun hat die SDF-Führung selbst Assads Regierung um Hilfe gerufen – die offizielle Armee des Herrschers in Damaskus, so die Hoffnung der Kurden, könnte die Türkei abhalten, die Region komplett einzunehmen.
Schon bei Erdogans früheren Angriffen hatte Assad seine Hilfe angeboten – sie aber davon abhängig gemacht, dass die Kurden sich dem syrischen Zentralstaat unterordnen. Als „schmerzhaften Kompromiss“ bezeichnete SDF-Kommandeur Mazlum Kobani das Zugeständnis an das Regime in Damaskus: Nur so habe man „einen Genozid an unserem Volk“ abwenden können. Offenbar ist die Furcht vor türkischen Soldaten und deren syrisch-arabischen Verbündeten größer als die Angst vor der Diktatur Assads.
Und einige in Nordsyrien freuen sich gar, dass die einst vertriebene Zentralmacht zurückkehrt. Am Montag hieß es, dass Regierungssoldaten schon kurdische Posten übernähmen. In Kamischli waren Christen in der Nacht zuvor, als der Deal zwischen der SDF und Assad bekannt wurde, auf die Straßen geströmt: Freudenschüsse, Sprechchöre, Jubel.
Jubel für Syriens Regierungstruppen
Auch in anderen Orten an der türkischen Grenze sollen Anwohner syrischen Regierungstruppen applaudiert haben. Nicht nur im Staatsfernsehen sind solche Szenen sehen, selbst Assad-feindliche Kurden sagen, die einst verhasste Regierung werde als Sicherheitsgarant gesehen. Auch das ist insofern neu, als dass Assad erst vor einem Jahr tönte, er werde die Türken davon abhalten, das syrisch-kurdische Afrin zu erobern.
Bis heute ist Afrin besetzt, wehen türkische Flaggen von Laternen, wird in örtlichen Schulen die osmanische Sicht gelehrt, ist Alkohol von protürkischen Islamisten verboten worden. Erdogan hat für Afrin sogar offiziell einen türkischen Verwalter eingesetzt. Zudem ließ er in den von Kurden verlassenen Häusern syrische Araber ansiedeln.
Um diese Art Kolonisierung zu verhindern, hat die Kurdenführung der Assad-Regierung deutliche Angebote machen müssen. So sollen alle externen Angelegenheiten fortan vom Regime, allenfalls die interne Zivilverwaltung von den multiethnischen Räten erledigt werden. Oppositionelle berichten, dass die Einigung durch Moskau zustande kam, ja dass Assad ohne russisches Veto die Kurdenregion an Erdogan ausgeliefert oder aber selbst angegriffen hätte. Fest steht: Die Autonomie, wie sie bislang herrscht, wird enden.
International anerkannt ist die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien ohnehin nicht. Amerikaner, Russen, Franzosen empfangen die Führung aus Kamischli immerhin als Repräsentanten der syrischen Kurden – die deutsche Bundesregierung tut selbst dies aus Rücksicht auf Ankara nicht.
Auch das sah einst anders aus, vorsichtig deutete sich an, dass sich Deutschland um bessere Beziehungen zu Syriens umstrittener PYD bemüht, als 2014 deren Schwesterverband PKK als einzige Kraft die Jesiden im syrisch-irakischen Grenzgebiet vor einem IS-Massaker rettete. Von einer „Neubewertung“ des auch in Deutschland aktiven PKK-Verbots sprach nicht nur die Linkspartei, sondern das erklärten auch einzelne SPD- und CDU-Politiker. Nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 aber verschärfte Erdogan seine Linie, seitdem bewegt sich auch die Bundesregierung kaum.
Freiwillige aus Deutschland helfen der YPG
Das bekommen auch diejenigen zu spüren, die sich als Freiwillige der YPG angeschlossen haben. So wie André Lüders, Enddreißiger, Berliner, Linker. Lüders – der tatsächlich anders heißt – hat sowohl in Syrien als auch in Irak gegen den IS gekämpft, über Details der Gefechte möchte er nicht reden. Schon 2016 habe er im Grenzgebiet türkische Soldaten gesehen, sagt er, es sei eigentlich klar gewesen, dass Erdogan einmarschieren wolle. Dass aber der Westen die kurdische Selbstverwaltung, die sicher nicht fehlerfrei ist, zum Abschuss freigegeben habe, macht Lüders wütend: „Nirgendwo in der Region sind Frauen so frei wie dort. Nirgendwo in der Region leben Atheisten, Christen, Jesiden und Muslime halbwegs friedlich zusammen.“
Wer als Deutscher nach einem Syrienaufenthalt zurückkommt, dem kann der Pass entzogen werden. Die Sicherheitsbehörden wollen so Ausreisen in Konfliktgebiete verhindern, ähnlich wie das bei potenziellen Dschihadisten geschieht. Mitstreiter von Lüders hatten in ihren deutschen Heimatorten zuletzt Besuch vom Verfassungsschutz. Lächerlich, sagt Lüders, als wären die Kurden die Gefahr. Noch kämpfen Deutsche an der Seite der Kurden – obwohl der Einsatz gefährlicher wird: Die Türkei ist die zweitgrößte Nato-Armee, die sich zudem auf kriegserprobte Islamisten verlassen kann.
Erst nach diesem Gespräch in einer Berliner Bar wird bekannt, dass sowohl Erdogan als auch Assad konkret die Hoheit über die strategisch wichtigen Städte Manbidsch und Kobane beanspruchen. Erdogan schreckt die internationale Kritik nicht: „Unser Kampf wird weitergehen, bis der endgültige Sieg errungen ist“, sagt der Staatschef am Montag. „Wir werden die Arbeit, die wir begonnen haben, auf jeden Fall zu Ende bringen.“
"Erdogan – wir gehen nirgendwo hin!"
Für die von Erdogan beanspruchte Pufferzone, in der er in die Türkei geflohene Syrer ansiedeln wolle, solle auch die internationale Gemeinschaft zahlen. Erstmal aber fahren sowohl syrische als auch türkische Truppen nach Manbidsch und Kobane, zwei Städte, die einst von der YPG unter hohen Verlusten vom IS befreit wurden. Hunderte inhaftierte IS-Anhänger konnten am Wochenende fliehen, nachdem Ankaras Armee kurdische Haftanstalten angegriffen hat. Einzelne IS-Zellen haben im Hinterland schon kurdische Posten attackiert.
Die Selbstverwaltung, das Rätemodell, internationale Solidarität – ist nun alles vorbei? Es gebe Wege, sagt Lüders, über die internationale Kämpfer nach wie vor nach Nordsyrien zu schleusen wären. Ob Freiwillige wieder nach Süden unterwegs sind, lässt Lüders offen.
Was ist eigentlich, wenn Assads Truppen die Region gar nicht verteidigen – sondern sich mit Erdogan arrangieren? Oder, wenn die türkischen Soldaten und die syrischen Islamisten die Armee Assads vertreiben? Dann werde auch er kämpfen, sagt Ali Mahmoud, 49, Mitarbeiter des Elektrizitätsverwaltung, am Telefon. Auch Mahmoud lebt mit seiner Familie in Kamischli, auch er hatte mit den Kämpfern der YPG bislang kaum zu tun. Doch nun, so sagt es Mahmoud laut am Telefon, gelte: „Erdogan – wir gehen nirgendwo hin, wir bleiben hier!“ Die Türkei wolle die Demografie der Region ändern, Ort für Ort, so wie es Erdogan in Afrin schon getan hat.
Alles, was Ali Mahmoud von der internationalen Gemeinschaft fordert, ist eine Flugverbotszone. Die galt in den 90er Jahren auch im Nachbarland Irak, wo Diktator Saddam Hussein zuvor die Kurden mit Giftgas hatte angreifen lassen. Iraks kurdische Autonomieregion wird heute international weitgehend respektiert.