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In der russischen Hauptstadt werden täglich Tausende Neuinfektionen registriert.
© Pavel Golovkin,dpa

Dramatischer Corona-Anstieg in Russland: Schritt für Schritt zur Impfpflicht

Die Delta-Variante hat Russland mit voller Wucht erfasst. Und jetzt?

Im Moskauer Stadtteil Babuschkino steht der 30-jährige Alexander M. vor Gericht. Die Ermittler haben in seiner Wohnung Tausende Impfzertifikate mit Behördenstempel und Unterschrift gefunden. Alle gefälscht.

Früher hatte M. mit selbst gefertigten Führerscheinen, Schwerbehindertenausweisen und Waffenbesitzkarten gehandelt. Vor einem halben Jahr verlegte er sich auf den Internet-Handel mit Impfzertifikaten. Sie ermöglichen dem Inhaber im von Corona-Wellen heftig heimgesuchten Moskau ein beinahe barrierefreies Leben.

M. versprach Lieferung in drei Stunden – sogar mit Kurier. Kostenpunkt umgerechnet 60 Euro. Der Fall Alexander M., über den die Zeitung „Kommersant“ in dieser Woche berichtete, ist einer der ersten, die vor Gericht verhandelt werden. Experten sind überzeugt, dass das Geschäft mit Zertifikaten in der ganzen Stadt floriert.

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Vor drei Wochen sind die Infektionszahlen in Moskau explodiert. Der Höhepunkt war am 19. Juni mit fast 10 000 Infektionen erreicht, inzwischen liegen sie zwischen 6000 und 7000 täglich. Die für das Gesundheitswesen zuständige Vizebürgermeisterin Anastasia Rakowa machte drei Ursachen aus: die Unwilligkeit der Moskauer, Masken zu tagen, die geringe Impfquote und die Delt-Variante des Virus. Letztere hat inzwischen einen Anteil von 90 Prozent an den Infektionen. Vor allem junge Leute sind betroffen.

Tiefes Misstrauen gegen "Sputnik"-Impfstoff

Als erstes Land der Welt hatte Russland im September vergangenen Jahres verkündet, man verfüge mit „Sputnik V“ über einen Impfstoff zur Immunisierung gegen das Coronavirus. Trotzdem liegt die Quote der vollständig Geimpften im Lande bei nur rund zehn Prozent. Der Hauptgrund ist das tiefe Misstrauen der Bevölkerung, dass „Sputnik“ wirklich zuverlässig schützt und ungefährlich ist.

Bürgermeister Sobjanin will den Lockdown vermeiden.
Bürgermeister Sobjanin will den Lockdown vermeiden.
© imago images/ITAR-TASS

Mit ihrem Wunsch nach einem Lockdown konnte sich Rakowa bei Bürgermeister Sergej Sobjanin nicht durchsetzen. Und der ist einer der wenigen Politiker, die das Coronavirus von Beginn an ernst genommen und immer wieder neue Schutzmaßnahmen verordnet haben. Doch das Risiko einen totalen Schließung mochte er nicht eingehen. Immerhin gilt in einigen Branchen, beispielsweise in den Versorgungsbetrieben, inzwischen eine Impfpflicht.

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Ab nächster Woche werden Restriktionen noch einmal verschärft. In Restaurants und Cafés dürfen nur noch vollständig geimpfte Personen. Zertifikate auf Papier werden dann nicht mehr anerkannt. Bedient wird nur, wer einen QR-Code vorweisen kann. Man folge dabei den Maßnahmen in vielen Städten Europas und Asiens, erklärte Sobjanin in seinem Blog. „Es wird Zeit, in Moskau aus diesen Erfahrungen zu lernen.“

Der Kreml, der die Verantwortung für die Bekämpfung der Pandemie völlig in die Hände der regionalen und lokalen Behörden gelegt hat, begrüßte die Maßnahmen Sobjanins. Bürger ohne Immunisierung, ließ Putin-Sprecher Dmitri Peskow verlauten, seien eine Gefahr für ihre Umgebung. Er ging sogar noch weiter: „Menschen ohne Immunität und ohne Impfung können nicht überall arbeiten.“ Diskriminierungen seien unvermeidlich.

Zwangsmaßnahmen gegen Unwillige

Das rief die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa auf den Plan. Beschäftigte des Konzerns Norilsk Nikel beispielsweise hatten ihr von Versuchen des Managements berichtet, die Impfquote hochzutreiben. Es sei ihnen gesagt worden: „Wenn ihr euch nicht impfen lasst, dann könnt ihr euren Urlaub und die übertariflichen Premien vergessen.“

Andere berichten über erzwungene Freistellungen, unbezahlt natürlich. Inzwischen führt eine russische Region nach der anderen die Impfpflicht zumindest partiell für bestimmte Branchen ein, derzeit gilt sie in zwölf von 85 Regionen.

Auch die Drohungen gegen Impfunwillige zeigen offensichtlich Wirkung. Vor Impfzentren bilden sich inzwischen Schlangen. Der Virologe Jewgeni Timakow ist überzeugt: Das kommt für diese Welle zu spät. Auch die Zuschauer der verbleibenden Spiele bei der Fußball-EM in St. Petersburg, dem zweiten russischen Hotspot, sind damit einem hohen Gesundheitsrisiko ausgesetzt.

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