Nach dem Referendum in Großbritannien: Schotten und Engländer gehen politisch aufeinander los
Vor der Abstimmung versprachen Politiker aller Parteien den Schotten mehr Geld und Rechte, falls sie im Staatenbund bleiben. Nun wollen die ersten nichts mehr von den eigenen Zusagen wissen. Die Wut wächst.
Der schottische Regierungschef und Nationalistenführer Alex Salmond hat den britischen Unionistenparteien Täuschung vorgeworfen. Schottlands Nein beim Unabhängigkeitsreferendum sei durch „falsche Versprechen“ erschlichen worden. „Die Menschen wurden in die Irre geführt“, sagte Salmond am Sonntag. Ihn überrasche aber, wie schnell man die gegebenen Versprechen ignoriere. Salmond deutete an, dass die Unabhängigkeitsfrage bei einem solchen Wortbruch wieder auf den Tisch komme.
Premier David Cameron als Chef der Torys, Labourchef Ed Miliband und Libdem-Parteiführer Nick Clegg hatten auf der Titelseite des schottischen „Daily Record“ weitergehende Autonomie und Finanzzuschüsse versprochen, wenn Schottland mit Nein stimme. Zwei Tage später lehnten die Schotten die Unabhängigkeit ab. Unmittelbar nach der Abstimmung stellte Premier Cameron aber ein Junktim zwischen den neuen Zugeständnissen für Schottland und neuen Rechten für England her: „Nun muss auch die Stimme Englands gehört worden.“
„Unser Traum von der Unabhängigkeit ist nicht tot“, erklärte Salmond, als er am Freitag nach seiner klaren Niederlage beim Referendum seinen Rücktritt als schottischer „First Minister“ und Parteichef der schottischen Nationalpartei SNP ankündigte. Nach eigenen Angaben wird die Nationalistenpartei seit dem Referendum mit einer Flut neuer Mitgliedsanträge überschwemmt, man habe bereits mehr als 5500 neue Mitglieder gewonnen. An einem „Versöhnungsgottesdienst“ schottischer Politiker nahm Salmond am Sonntag nicht teil.
Euro-Gegner treiben die Regierung vor sich her
Camerons Forderung, in einem ersten Schritt die Abstimmungsrechte schottischer Unterhausabgeordneter bei „rein englischen Fragen“ zu beschneiden, war eine Kampfansage an Labour, weil sie auf eine Schwächung von Labours Stimmrechten im Unterhaus hinausläuft. Es gilt als Anomalie, dass schottische Abgeordnete über englische Fragen abstimmen können, während englische Abgeordnete bei entsprechenden schottischen Fragen keinen Einfluss haben. Labourchef Ed Miliband will über Verfassungsänderungen für England nur auf einem formellen Verfassungskonvent diskutieren.
Rechte Tory-Abgeordnete drohen, die Zugeständnisse an Schottland zu Fall zu bringen. „Warum hat man einem kleinen Teil des Vereinigten Königreichs erlaubt, durch ein Referendum die gesamte Verfassung des Landes zu zerstören?“, fragte der Tory-Hinterbänkler Owen Paterson, ein Wortführer der Euro-Skeptiker. Torys um Paterson fordern die gleichen Autonomierechte, die Schottland gewährt werden, nun auch für England, einschließlich einer englischen Regierung und eines englischen „First Minister“.
Die „Mail on Sunday“ kritisierte, mit der panischen Reaktion auf eine „Ausreißerumfrage“ hätten die Parteichefs den Schotten weitere „45 Milliarden Pfund“ in den Rachen geworfen. Das bezieht sich auf das Versprechen, die 1300 Pfund pro Kopf und Jahr, die Schottland mehr als andere UK-Nationen aus der britischen Haushaltskasse erhält, weiter zu bezahlen. Eigentlich sollten diese Sondermittel gestrichen werden.
Matthias Thibaut