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Mehrere zehntausend Menschen protestieren in Berlin unter dem Motto "Mietenwahnsinn stoppen".
© imago images / Christian Mang

Debatte um Enteignung von Immobilien: Scheinlösung oder notfalls vertretbar?

Der Streit um die Enteignung von Immobilien verstellt den Blick darauf, dass die große Koalition längst einiges gegen die Wohnungsnot plant.

Ein Streit in ihrer Partei über eine mögliche Enteignung von Wohnraum – davon will SPD-Chefin Andrea Nahles nichts wissen. In der Parteiführung gebe es in der Frage einen „wirklich ganz breiten Konsens“, versicherte Nahles am Montag nach einer Sitzung des SPD-Bundesvorstands: „Wir waren uns alle einig, dass die Enteignung nicht schnell bezahlbaren Wohnraum schafft“, sagte Nahles.

Nahles: Enteignung ist "Scheinlösung"

Enteignungen seien eine „Scheinlösung“ – zu teuer und zu langwierig, um die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt zu entschärfen. Ein „Mietendeckel“ sei sinnvoller, sagte Nahles. Auch über „Baugebote“ für langjährige Brachflächen könne man nachdenken.

Zuvor hatte Nahles’ Stellvertreter Ralf Stegner gefordert, „Enteignungen als letztes Mittel nicht ausschließen.“ Auch die Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe – wie Stegner eine Parteilinke – sieht das so: „Als Ultima Ratio müssen Enteignungen möglich sein“, sagte sie dem Tagesspiegel. Viele Immobilieninvestoren setzten Mieter unter Druck. „Da muss der Staat Zähne zeigen können.“ Allerdings hält auch Kiziltepe die strenge Begrenzung von Mieten für die „schnellste und bessere Lösung.“ Das Thema sei in der SPD aber längt noch nicht ausdiskutiert.

Am Wochenende hatte Grünen-Chef Robert Habeck gesagt, er halte Enteignungen zum Allgemeinwohl „notfalls“ für vertretbar. Habeck verweist dabei auf seinen Parteifreund, den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Der will die Wohnungsnot in der baden-württembergischen Universitätsstadt lindern, indem er Besitzer von rund 500 brachliegenden Grundstücken stärker in die Pflicht nimmt. In diesen Tagen sollen sie Post von der Stadt erhalten – mit der Frage, ob sie bereit seien, in den nächsten vier Jahren zu bauen. Wenn nicht, bietet die Stadt an, das Grundstück zum Verkehrswert zu kaufen. Falls sie auch dazu nicht bereit sind, droht ihnen ein Zwangsgeld. Am Ende könnte, als letzter Schritt, eine Enteignung mit Entschädigung stehen.

Baukindergeld: Teuer und im Nutzen fragwürdig

Palmer beruft sich dabei auf das Baugesetzbuch. Dieses sieht in Paragraph 176 ein „Baugebot“ vor, das den Kommunen unter bestimmten Bedingungen den Zugriff auf unbebaute Grundstücke ermöglicht. Grünen-Chef Habeck hält dies für einen legitimen Weg. Es wäre doch „absurd“, so Habeck, wenn dieses Instrument nur angewendet werde, um neue Autobahnen zu bauen, aber nicht, um gegen die grassierende Wohnungsnot vorzugehen.

Der Streit um das Reizwort „Enteignungen“ verstellt neben allen juristischen und finanziellen Friktionen, die sich dahinter verbergen, etwas den Blick darauf, dass die große Koalition längst einiges plant. Am umstrittensten, da mit bis zu zehn Milliarden Euro sehr teuer und im Nutzen fragwürdig, ist das Baukindergeld in Höhe von 12.000 Euro je Kind (gezahlt über zehn Jahre). Insgesamt sollen daneben zum Beispiel für den sozialen Wohnungsbau mindestens zusätzlich zwei Milliarden Euro zweckgebunden zur Verfügung gestellt werden.

Pro Jahr müssten nach Ansicht des Deutschen Mieterbundes rund 400 000 neue Wohnungen gebaut werden, um die Wohnungsnot zu lindern – davon 80.000 Sozialmietwohnungen. Immerhin ist nach neuen Zahlen im Januar die Zahl der neu genehmigten Wohnungen mit 27.100 um 9,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.

Bund forcierte Vertreibung und Gentrifizierung

Besondere Hoffnung setzt die Regierung in eine Art „Lex Bima“. Dahinter verbirgt sich die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA). Sie gehört dem Bund und ist nach eigenen Angaben mit einem Portfolio von Grundstücken mit einer Gesamtfläche von rund 468.000 Hektar und etwa 36 000 Wohnungen „ eine der größten Immobilieneigentümerinnen Deutschlands.“ 

Viele Immobilien befinden sich guten Innenstadtlagen und wurden lange Zeit an den meist bietenden Investor verkauft. Das ließ die Kassen des Bundes klingeln, schuf aber keinen günstigen Wohnraum, sondern forcierte die Vertreibung und sogenannte Gentrifizierung.

Nun soll den Ländern und Kommunen bundeseigene Grundstücke und Immobilien im beschleunigten Verfahren zu vergünstigten Konditionen zur Verfügung gestellt werden, es also ein Erstzugriffsrecht geben. Statt Luxuswohnungen sollen auch so mehr erschwingliche Wohnungen für die breite Schicht der Bevölkerung geben. Aber es ist und bleibt ein Wettlauf mit der Zeit. Denn der Ausverkauf und die Verdrängung im bestehenden Immobilienbestand geht unterdessen munter weiter. Und beflügelt wilde Enteignungsfantasien.

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