Reform des Wahlrechts: "Schäubles Konklave muss liefern"
Wie sollen wir abstimmen? Der Wahlexperte Friedrich Pukelsheim wünscht sich mehr Öffentlichkeit in der Reformdebatte und fordert eine zügige Lösung.
Herr Pukelsheim, Sie sind als Mathematiker auch Fachmann für Wahlsysteme und beraten den Bundestag seit vielen Jahren. Warum brauchen wir so dringend eine Reform des Wahlrechts?
Wollen wir warten, bis das Parlament tatsächlich aus allen Nähten platzt? Der vorige Bundestag hatte schon 631 Abgeordnete, jetzt sind es 709. Für den nächsten Bundestag werden, ausgehend von aktuellen Umfragen, 750 Sitze prognostiziert oder gar über 800. Die im Gesetz festgelegte Sollgröße von 598 Sitzen wird Makulatur, weil das aktuelle Wahlsystem keine feste Größe garantieren kann. Ein Wahlgesetz muss aber halten können, was es dem Wahlvolk verspricht. Daher muss es das Ziel sein, wieder so nahe als möglich am Sollziel 598 bleiben zu können.
Warum hat es nicht schon früher geklappt mit einer Reform?
Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert hat die Abgeordneten wiederholt ermahnt, das Wahlgesetz zu reformieren. Eindringlich und öffentlich, einschließlich eines Reformvorschlags von ihm selbst. Ohne Erfolg. Die Parteien haben seine Initiative auf Sand laufen lassen.
Lammerts Nachfolger Wolfgang Schäuble hat vor einem Jahr einen neuen Anlauf gestartet und eine parteiübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet…
…man könnte auch von einem Konklave sprechen. Statt Öffentlichkeit, beim Thema Volkswahl eigentlich einzig sinnvoll, herrscht strikte Vertraulichkeit. Dabei darf es nicht bleiben. Schäubles Konklave muss jetzt liefern.
Warum will man unbedingt beim bisherigen System einer personalisierten Verhältniswahl bleiben und es irgendwie reformieren, trotz aller Defizite?
Das Zweistimmen-Wahlsystem hat sich bewährt und ist international hoch angesehen. Manche sehen darin das Beste zweier Welten verwirklicht, der Welt der Personenwahl und der Welt der Verhältniswahl. Doch mit den Veränderungen im Parteiensystem, nicht zuletzt dem Schwächerwerden von SPD und Union, ist das System unausgewogen geworden. Direktmandate lassen sich nicht mehr reibungsfrei in die Verhältnisrechnung einbetten. Daher kommt es bei der Reform darauf an, wie beide Komponenten neu miteinander verbunden werden. Hier liegt der Hase im Pfeffer.
Sie selbst schlagen vor, die Gesamtsitzzahl bei 598 zu belassen, aber die Zahl der Wahlkreise und damit der Direktmandate von 299 auf 240 zu verringern sowie das Verfahren der Sitzzuteilung zu straffen. Ist das nicht ein zu tiefer Eingriff?
Bezogen auf die 709 Sitze im aktuellen Bundestag liegt das Verhältnis zwischen Direkt- und Listenmandaten schon jetzt bei etwa 40 zu 60. Also könnte man auch von vorneherein mit 240 Wahlkreisen starten, in denen die Direktmandate vergeben werden. Natürlich ist jede Änderung der Wahlkreisstruktur für die Politikakteure ein Kraftakt. Große Parteien bekämen weniger Direktmandate als bisher. Kleine Parteien müssten mehr kämpfen, um überhaupt welche zugewinnen. Und alle Abgeordneten jeglicher Couleur müssten ihre Basisarbeit auf den fälligen Neuzuschnitt der Wahlkreise umstellen. Von daher sind 240 Wahlkreise ein Kompromiss zwischen wahlsystematischem Erfordernis und dem, was politisch erträglich erscheint.
Fehlt der Mut, ein anderes System auszuprobieren?
Natürlich gibt es mehr Lösungsmöglichkeiten für das derzeitige Dilemma. Wir könnten auch zu einer anderen Stimmgebung und einer anderen Wahlform übergehen. Den Landeslisten der Parteien könnte man Listen mit den Wahlkreisbesten zur Seite stellen und daraus hälftig die Mandate besetzen. Oder man könnte die Stimmgebung variieren und Zwei-Personen-Wahlkreise bilden. Das wäre meiner Meinung nach jedoch eher etwas für eine öffentliche Enquetekommission als für ein geheimes Konklave. Aber die angestrebte Reform muss nicht unbedingt für das ganze Jahrhundert gelten. Es geht darum, die erkannten Schwächen im bestehenden Wahlrecht abzustellen. Auf welche Lösung sich die Runde schließlich einigt, ist das eine. Nichts zu tun, ist das andere. Es wäre ein Armutszeugnis für die parlamentarische Demokratie, wenn auch beim zweiten Anlauf die Parteien den Bundestagspräsidenten mit seiner Initiative im Stich lassen. Der Bundestag ist in der Pflicht, die gesetzliche Sollgröße von 598 Sitzen ernst zu nehmen.
Friedrich Pukelsheim ist emeritierter Mathematikprofessor an der Universität Augsburg und ein international angesehener Experte für Wahlsysteme.