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Der Osten, eine abgehängte Großregion? Das Bild stammt von 2005 - es passt schon lange nicht mehr.
© dpa/picture alliance

Debatte über neues Bundeskabinett: Schafft den Osten ab!

Ein politischer Begriff lebt fort, dessen Grundlagen längst am Verschwinden sind. Das zeigt auch die Debatte über das neue Bundeskabinett. Ein Zwischenruf.

Ein Zwischenruf von Albert Funk

Irgendwie lebt die DDR fort. Sie heißt „der Osten“. Wie sonst sollte man es verstehen, dass fast 30 Jahre nach dem Ende des sozialistischen Staates in aller Selbstverständlichkeit noch immer von einer Großregion gesprochen wird, die nichts anderes ist als ein künstliches Konstrukt, das sich mit dem geisterhaften Fortleben eines untergegangenen Dampfers verbindet. „Der Osten“ ist nicht nur ein geographischer Begriff, sondern er ist auch ein politischer Begriff, in dem stets etwas von Verlust, Abgrenzung, Benachteiligung mitschwingt. Er ist wie gemacht für jene Populisten auf der Rechten und auch der Linken, die mit Opferrhetorik ihre Stimmen holen. „Wir von hier“ als Verlierergemeinschaft.

In der Debatte über ein „Gesicht des Ostens“ im Bundeskabinett wird nicht nur Regionalproporz eingefordert. Nein, er oder sie soll auch ostdeutsche Mentalität und Lebenserfahrung vertreten. So sagte es Stefan Zierke, brandenburgischer SPD-Abgeordneter im Bundestag. Aber verbindet einen Schweriner um die 40 mental und lebenserfahrungsmäßig wirklich noch so viel mehr mit einem Plauener als mit einem Lübecker? Wie weit weg ist eine Leipzigerin des Jahrgangs 1990 mit Studium in Köln und Grenoble von einer Stuttgarterin mit Studium in Dresden und Edinburgh, was Mentalität und Lebenserfahrung betrifft? Was trennt einen Handwerker in Stendal von einem in Uelzen? Und wie viele wissen sicher, welcher der beiden Orte „im Osten“ liegt? Wie „ostdeutsch“ ist eigentlich Franziska Giffey?

Schockerfahrungen der 90er-Jahre

Nun ist der Einwand, dass „den Osten“ ein gemeinsames Schicksal verbindet, an das sich ein gemeinsames Interesse knüpft, nicht völlig falsch. Schockerfahrungen der Jahre nach 1990 klingen zweifellos nach. Aber sie klingen eben auch ab. Dramatische „Ost-Themen“ gibt es nicht mehr, die Ost-Ministerpräsidentenkonferenz ist ein Gremium mit geringem Nachrichtenwert geworden. Es waren übrigens diese Ministerpräsidenten, die bei den Verhandlungen über den neuen Finanzausgleich darauf pochten, es solle keinen dritten Solidarpakt geben.

Man wollte nicht mehr als Sondergebiet behandelt werden. Zwar ist die Steuerkraft nach wie vor deutlich geringer (bei 60 Prozent des Bundesschnitts), was aber auch daran hängt, dass die Konzernsitze an der Isar, am Main oder am Rhein liegen und die Reichen am Starnberger See wohnen und nicht an der Müritz. Insofern verteilt der Finanzausgleich zum Teil einfach nur zurück, was zwischen Erzgebirge und Rügen erwirtschaftet, aber nicht versteuert wurde.

Und dieser Finanzausgleich garantiert, dass „der Osten“ auf einem Niveau wirtschaftet, bei dem von Abgehängtsein keine Rede sein kann.  Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist gegeben: das Angebot des Staates an seine Bürger ist "im Osten" nicht gravierend anders als in Niedersachsen, im Saarland oder in Bayern. Dass reiche Kommunen mehr zu bieten haben als ärmere ist in Nordrhein-Westfalen so wie in den fünf "neuen" Ländern. Im Übrigen ist die Infrastruktur hier häufig neuer und moderner als in den „alten“ Ländern.

Dass schon die vorige große Koalition die Förderpolitik anders ausgerichtet hat und sich die neue noch weiter entfernen will vom Fördern „nach Himmelsrichtung“ – also „in den Osten“ – ist darin begründet. „Der Osten“ ist schon weiter, als manche glauben oder glauben machen, und er zeigt mittlerweile eine Binnendifferenzierung, die klar erkennbar ist. Brandenburg etwa hat sich, auch vom Berliner Aufschwung profitierend, wirtschaftlich dem Bundesschnitt schon weit angenähert. Mecklenburg-Vorpommern hat Bayern als Urlaubsland Nummer eins in Deutschland längst abgelöst.

Anschluss ist geschafft

Zwar sind die Arbeitseinkommen „im Osten“ nach wie vor niedriger, aber die Lebenshaltung ist eben auch günstiger – regionale Einkommen und regionale Preise stehen immer in einem Zusammenhang. Das gilt nicht zuletzt für Mieten und Immobilien, ein nicht ganz unwesentlicher Kostenfaktor für jeden Haushalt. Und der Unterschied schwindet. In Brandenburg lag der durchschnittliche Bruttolohn (Kleinverdiener inklusive) bei 28059 Euro, in Schleswig-Holstein bei 29436 Euro.

Was bedeutet: Brandenburg liegt bei 84 Prozent des Bundesdurchschnitts, Schleswig-Holstein bei 88 Prozent. Die Kluft, wenn man so will, liegt darin, dass man in Frankfurt/Oder dafür ein paar Stunden im Monat länger arbeiten muss als in Flensburg. Die Arbeitslosenquote war in Sachsen und Thüringen zuletzt niedriger als in Nordrhein-Westfalen. Dass die Vermögensbildung "im Osten" zurückbleibt, ist richtig, aber wer "im Westen" wenig oder nichts erbt, steht auch nicht toll da.

Das Fortleben „des Ostens“ als politisches Konstrukt wird mit jedem Jahr irritierender, das Lied der großen Benachteiligung klingt immer schräger. Es gibt abgehängte Regionen in den ostdeutschen Ländern, ja, mit Überalterung, Abwanderung und Wirtschaftsschwäche, aber es gibt keinen im Ganzen abgehängten Osten. Das Kollektiv mit seiner ostdeutschen Mentalität und Lebenserfahrung sollte sich langsam mal auflösen in Thüringer, Brandenburger, Mecklenburger, Sachsen-Anhalter und Sachsen. Als solche sind sie nämlich so deutsch wie alle anderen auch.

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