Ostdeutsche an der Spitze der Gesellschaft: Aufstieg gestoppt
Der Vorwurf: Der Osten kommt im Koalitionsvertrag kaum vor, auch fehlen bisher Minister aus den neuen Bundesländern. Wie gut ist der Osten in der Spitze der Gesellschaft vertreten?
WIRTSCHAFT
Mehr als 28 Jahre nach dem Mauerfall finden sich in den Vorstandsetagen der 30 Dax-Unternehmen so gut wie keine Manager aus Ostdeutschland. Von den 196 Vorstandsposten in den größten deutschen Aktiengesellschaften sind nur fünf mit Managern aus dem Osten Deutschlands besetzt. In 26 Dax-Unternehmensvorständen ist er personell gar nicht vertreten. Das hat eine Umfrage des Tagesspiegels unter den 30 Dax-Unternehmen ergeben. Mit VW-Konzernvorstand Matthias Müller, der in Chemnitz geboren ist, kommt nur ein Vorstandschef eines Dax-Unternehmens aus dem Osten. Im Konzernvorstand des Autobauers sitzt mit Hiltrud Dorothea Werner, die für das Vorstandsressort Integrität und Recht zuständig ist, eine weitere ostdeutsche Managerin. Bei der Deutschen Börse leitet die in Merseburg geborene Hauke Stars seit 2012 das Vorstandsressort für Cash Market, bei der Munich Re ist Torsten Jeworrek, der aus Oscherselben kommt, für das Rückversicherungsgeschäft zuständig. Komplettiert wird das Bild von Kathrin Menges aus Pritzwalk, die seit fast sechs Jahren das Personalressort leitet.
Philipp Fleischmann von der Personalberatung Kienbaum führt das auf die Teilung und die unterschiedliche Sozialisation in Ost und West zurück. Fleischmann geht aber davon aus, dass sich das Bild ändern wird. In den Business Schools gebe es viele Ostdeutsche, auch in der zweiten Reihe der Unternehmen sei der Nachwuchs aus dem Osten auf dem Sprung, Karriere zu machen. Wichtig sei, dass das gelingt: „Wenn wir in zehn Jahren noch immer dasselbe Bild in den Führungsetagen haben, haben wir ein politisches Problem“, warnt Fleischmann.
2016 hatte die Uni Leipzig in einer Studie herausgefunden, dass Ostdeutsche selbst in den hundert größten Ost-Unternehmen nur ein Drittel der Jobs in den Chefetagen innehaben. „In nahezu allen Industrie- und Handelskammern im Osten stehen Ostdeutsche an der Spitze“, heißt es dagegen beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag. (Mitarbeit: Ina Winkler)
WISSENSCHAFT
Schaut man sich die Uni-Präsidenten und -Rektoren an, ist es um die Repräsentanz von Ostdeutschen in den Spitzenpositionen schlecht bestellt. Man nehme etwa die 15 Universitäten in Ostdeutschland: Alle werden aktuell von Wissenschaftlern geleitet, die im Westen aufgewachsen sind und dort ihre Karriere aufgebaut haben. Oder man denke an die sechs großen Universitäten in Berlin und Brandenburg (FU, HU, TU, Potsdam, BTU Cottbus, Viadrina Frankfurt/Oder): In den vergangenen zwanzig Jahren schaffte es mit dem ehemaligen HU-Präsidenten Jan-Hendrik Olbertz nur ein Ostdeutscher an deren Spitze. Für den Hochschulforscher Peer Pasternack von der Uni Halle sind solche Zahlen „Spätwirkungen der Umbauprozesse der 1990er Jahre“. Damals junge ostdeutsche Wissenschaftler, die heute in dem Alter für Leitungspositionen seien, hätten sich erst ihre Position im gesamtdeutschen Wissenschaftssystem erarbeiten müssen und wenig Zeit gehabt, sich auch noch die nötigen Netzwerke für den Karriereaufstieg aufzubauen.
Dennoch hält Pasternack die Wissenschaft für ein wenig geeignetes Feld, um die These der mangelnden Repräsentation Ostdeutscher stichhaltig zu überprüfen. Schließlich seien Forscher zur „Wanderschaft“ gezwungen: „Wie will man dann Herkunft werten?“ Ob der Geburtsort zähle, das Abiturland, das Studium, die Promotions-Uni oder die der Habilitation? Und guckt man sich die Wissenschaftsorganisationen an, sieht es anders aus: Die Fraunhofer-Gesellschaft und die Nationale Akademie der Wissenschaften werden von Ostdeutschen geführt. DFG und Leibniz-Gemeinschaft: Hier sind Westdeutsche Chefs, die Professuren an ostdeutschen Unis innehatten. Bleiben mit der Helmholtz- und der Max-Planck-Gesellschaft nur zwei, deren Chefs keine Berührungspunkte mit dem Osten haben.
MEDIEN
In den Medien sieht es recht übersichtlich aus, was Verantwortlichkeit, Relevanz und Sichtbarkeit ostdeutscher Moderatoren, Senderverantwortlicher oder Schauspieler betrifft. An erster Stelle wäre Karola Wille zu nennen. 1959 geboren in Karl-Marx-Stadt, seit November 2011 Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) als Nachfolgerin des Bayern Udo Reiter, damit verantwortlich für Fernsehen, Internet und Radio beim größten ARD-Verbund: Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. In ihrer Zeit als ARD-Vorsitzende bis Ende 2017 hat sich Wille im Reigen ihrer zumeist männlichen (und westdeutschen) Kollegen deutlich und profiliert zu Wort gemeldet. Der MDR macht viel Schlager und Volksmusik – wegen der Quote. Das ZDF bestreitet mit der in Grimma geborenen Moderatorin Carmen Nebel in schöner Regelmäßigkeit seinen Samstagabend. Ebenfalls nicht aus dem Showfernsehen wegzudenken: Kai Pflaume. „Klein gegen groß“, „Wer weiß denn sowas?“, zwischendrin mal vertretungsweise „NDR Talk Show“ – es gibt nichts, was der aus Halle/Saale stammende Moderator mit dem Schwiegersohn-Image, der im Herbst 1989 aus der DDR über Budapest in die Bundesrepublik Deutschland flüchtete, nicht gut wegmoderiert. Pflaume ist so beliebt wie Jan Josef Liefers – geboren in Dresden, „Tatort“-Erfolg in Münster – oder ZDF-„Stubbe“ Wolfgang Stumph. Einer aus Berlin-Kaulsdorf hat es allerdings nicht geschafft im deutschen Fernsehen. Das Scheitern von Wolfgang Lippe als Gottschalk-Nachfolger bei „Wetten, dass..?“ in den 1990ern
war kolossal und wurde im Nachhinein auch mit west- gegen ostdeutsche Befindlichkeiten erklärt. Maybrit Illner aus dem Zweiten ist 1965 in Ost-Berlin geboren. Nicht zu vergessen: beim Rundfunk Berlin-Brandenburg Cathrin Böhme, seit 20 Jahren Moderatorin der beliebtesten RBB-Sendung, der „Abendschau“. Bei Böhmes Sender, der Zweiländeranstalt Berlin-Brandenburg, hat es in 14 Jahren allerdings noch keinen ostdeutschen Intendanten gegeben. RBB-Intendantin Patricia Schlesinger kommt aus Hannover.
KULTUR
Im Kulturbetrieb geht es nicht um die Herkunft: Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, ist ein Bayer von Geburt. Frank Castorf war ein Vierteljahrhundert lang Intendant der Berliner Volksbühne – ein Ostler. Aber schon die drei großen Buchstaben, die auf dem Dach prangten, „OST“, hatten etwas Ironisch-Spielerisches. Das Ost-Gefühl der Castorf’schen Volksbühne war ein Hybrid. Von Anfang an haben dort Schweizer (Christoph Marthaler), Westdeutsche (Christoph Schlingensief) und natürlich auch Ossis die Zeichen gesetzt; der Ost-Chef hat sich herzlich wenig für ostdeutsche Themen interessiert, mehr für russische Literatur, Kuba und zuletzt alles Französische. Der Widerstand gegen den Nachfolger hat nichts mit dessen belgischer Nationalität zu tun: Chris Dercon fehlt der Theaterstallgeruch. Sehr beliebt dagegen ist die Hebbel- am-Ufer-Chefin Annemie Vanackere aus Belgien. Ihre Stellvertreterin Aenne Quinones stammt aus dem Osten. Vor allem aber stammt sie aus dem Theater. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, wurde in Jena geboren.
Sein Programm orientiert sich an internationalen Trends, das kann gar nicht anders sein in einer Stadt wie Berlin. Man ist froh, einen Australier an der Spitze der Komischen Oper zu haben. Barrie Kosky hält dort die ostdeutsche Tradition des Opernreformators Walter Felsenstein hoch. Daniel Barenboim trifft die Sache am besten: Er besitzt einen argentinischen, spanischen, israelischen und palästinensischen Pass.
SPORT
Im deutschen Spitzensport gibt es kaum Ostdeutsche in Führungspositionen. Im Präsidium des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der Dachorganisation des deutschen Sports, stammen zwei der neun Mitglieder aus der DDR: Petra Tzschoppe, als Vizepräsidentin für Frauen und Gleichstellung zuständig, sowie Jan Holze, Vorsitzender der Deutschen Sportjugend. In den fünf größten Sportverbänden der Republik – Fußball, Turnen, Tennis, Schießen und im Alpenverein, die jeweils über eine Million Mitglieder haben – stammen die Präsidenten aus dem Westen Deutschlands. Dem Deutschen Handball-Bund steht Ascherslebens Bürgermeister Andreas Michelmann als Präsident vor, die Handballer haben mit Christian Prokop auch einen ostdeutschen Bundestrainer. In den großen Mannschaftssportarten sind ansonsten durchweg westdeutsche Chefs am Werk. Anders sieht es jedoch im Wintersport aus. Die bei Olympia sehr erfolgreichen Biathleten stehen unter der Verantwortung von Mark Kirchner. Auch die Bob- und Rodelsportler werden von Cheftrainern aus den neuen Bundesländern betreut. Zusammen haben diese Verbände in Pyeongchang acht der 14 deutschen Goldmedaillen gewonnen. Ganz anders sieht es in der deutschen Fußball-Bundesliga aus: Keiner der 18 Vereine vertraut auf einen in Ostdeutschland geborenen Coach. In der zweiten Liga sind es auch nur zwei. Allerdings gibt es in den beiden höchsten deutschen Spielklassen auch nur vier Klubs auf dem Gebiet der früheren DDR. In der Fußball-Nationalmannschaft war der Chemnitzer Michael Ballack einst Kapitän – bis heute als einziger Ostdeutscher.
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