Landtagswahl: Sachsen-Anhalt, das ewige Sorgenkind
Die AfD steht laut Umfragen in Sachsen-Anhalt vor einem Rekordergebnis - verliert Schwarz-Rot die Regierungsmehrheit?
Nun ist Friedrich Schorlemmer schon 71 Jahre alt, prominenter Protagonist der Opposition in der DDR, Theologe, Sozialdemokrat. Und noch immer ist der gebürtige Wittenberger vermutlich der bekannteste Erklärer des Bindestrich-Bundeslandes, das in seiner Zwiespältigkeit nicht leicht zu fassen ist. Sachsen-Anhalt hat neben Bayern die meisten Unesco-Weltkulturerbestätten in Deutschland, es speist als armes Land Identität aus einer großen Vergangenheit. Und doch fehlt es am Wir-Gefühl.
Schorlemmer sagt es so: „Eine richtige Landesidentität konnte sich kaum bilden. Was haben Halberstädter Würstchen schon auszurichten gegen Thüringer Bratwurst oder Dresdner Stollen?“ Den Sachsen-Anhalter charakterisiere, dass er nicht wisse, wo er hingehöre, „zu Sachsen, zu Preußen, auch zu Thüringen?“ Die Konkurrenz zwischen den beiden größten Städten Magdeburg – der Landeshauptstadt – und Halle bezeichnet Schorlemmer als „nicht zu lösen“. Alles in allem, so bilanziert er: „ein Kunstgebilde wie Nordrhein-Westfalen“.
Mit einem wichtigen Unterschied zum größten Bundesland: Sachsen-Anhalt ist ein Sorgenkind. Zur SED-Zeit wurde den Bürgern in den Industriezentren versprochen, dass Chemie Schönheit, Wohlstand und Glück bringe. Derweil die Giftküchen dampften, Wasser, Boden und Luft verseuchten. Richtig erholt hat sich das neue Bundesland nie. Erfolge und Rückschläge beim wirtschaftlichen Strukturwandel wechselten sich nach 1990 ab. Nur ein paar Zahlen aus dem Statistischen Landesamt: 2015 sind etwa eine Million der 2,2 Einwohner des Landes erwerbstätig gewesen. Während die Erwerbstätigenzahl bundesweit einen neuen Höchststand erreichte, nahm sie in Sachsen-Anhalt so stark ab wie in keinem anderen Bundesland sonst.
Die Arbeitslosenrate liegt aktuell bei 10,8 Prozent, das ist Rang drei im Ländervergleich hinter Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. Gerade mal noch 110.000 Personen sind in den Industriebetrieben des Landes tätig – deren Umsätze sanken im vergangenen Jahr um 4,4 Prozent auf 36,3 Milliarden Euro. Die Zahl der Pendler über die Landesgrenzen steigt. Die Lohnkosten sind so niedrig wie sonst nur noch in Mecklenburg-Vorpommern. Dramatisch ist der Rückgang der Einwohnerzahl. Noch 1990 waren es fast 2,9 Millionen, Prognosen zufolge soll diese Zahl bis 2025 auf 1,9 Millionen zurückgehen. Es sei denn, der Zuzug von Flüchtlingen hält die Entwicklung auf.
Von der PDS toleriert: 1994 wagte Höppner das "Magdeburger Modell"
Wie lässt sich ein solches Bundesland regieren? „Soll ich ein Gesetz für mehr Zufriedenheit auf den Weg bringen?“, hat der inzwischen verstorbene ehemalige SPD-Regierungschef Reinhard Höppner einmal gefragt. Er hat 1994 ein Experiment gewagt und gegen viele Widerstände auch aus der eigenen Partei eine rot-grüne, von der PDS tolerierte, Minderheitsregierung auf den Weg gebracht. Obwohl die Grünen 1998 aus dem Landtag geflogen waren und die DVU mit 12,9 Prozent ins Landesparlament einzog, blieb Höppner vier weitere Jahre beim „Magdeburger Modell“. Das Kapitel mit den Rechtsextremisten endete nach vier Jahren.
Seit 2002 hat Sachsen-Anhalt wieder – wie schon in den ersten Jahren nach der Einheit – CDU-Ministerpräsidenten. Erst Wolfgang Böhmer, der sein Bundesland ebenfalls mal als „historisches Kunstprodukt“ bezeichnete. Zunächst regierte er mit der FDP, dann mit der SPD. Das schwarz-rote Regierungsmodell übernahm Böhmers Nachfolger Reiner Haseloff, der 2011 ans Ruder kam. Die SPD hätte vor fünf Jahren auch Rot-Rot-Grün haben können. Doch einen linken Ministerpräsidenten wollte sie nicht akzeptieren, anders als ihre Parteifreunde 2014 in Thüringen.
Dass die Linke in Sachsen-Anhalt „unkonventionell-undogmatisch“ ist, wie es Schorlemmer einmal ausdrückte, wird ihr und ihrem Spitzenmann Wulf Gallert am Sonntag wohl nicht nutzen. Für Rot-Rot-Grün wird Umfragen zufolge diesmal wohl eine Regierungsmehrheit fehlen. Richtig spannend wird es, wenn es wegen eines AfD-Rekordergebnisses nicht einmal für Schwarz-Rot reichen sollte.
Matthias Meisner