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Gespräch im Bundestag: Bundeskanzlerin Angela Merkel (links) und Annalena Baerbock im Januar dieses Jahres.
© dpa

Die Grünen und das Kanzleramt: Rütteln an den Türen der Macht

Ich traue mir das Amt der Kanzlerin zu, sagt Annalena Baerbock und erklärt auch Co-Chef Robert Habeck für geeignet für den Spitzenjob. Das wirft Fragen auf. Ein Kommentar. 

Ein Kommentar von Hans Monath

In der Person der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers laufen alle Kraftlinien dieser Republik zusammen. Mit ihnen zu arbeiten, sie zu lenken oder ihnen zu widerstehen, ist so fordernd, dass sich im Gesicht der Amtshinhaber bald die „Spuren der Macht“ eingraben. Unter diesen Titel hat Herlinde Koelbl ihre Fotografien gestellt, mit denen sie die Verwandlung von Menschen durch politische Verantwortung dokumentierte.

Nun möchte eine vor wenigen Tagen 40 Jahre alt gewordene Völkerrechtlerin diese große Verantwortung übernehmen, die seit drei Jahren Co-Vorsitzende einer Partei ist, aber über keine exekutive Erfahrung verfügt, weder als Ministerpräsidentin noch als Landes- oder Bundesministerin. Ich traue mir das Amt der Bundeskanzlerin zu, hat Grünen-Chefin Annalena Baerbock am Wochenende erklärt - und auch Co-Parteichef Robert Habeck als geeignet gelobt. Gerhard Schröder hatte einst am Tor des Kanzleramts gerüttelt. Baerbock wählte ein Interview, um ihre Ambitionen zu verkünden.

Die Grünen würden eine Chance vergeben, wenn sie keine Frau ins Kanzleramt schicken wollten

Habeck bringt immerhin Erfahrung als Landesminister und Vizeministerpräsident in Kiel mit. Trotzdem trauen viele Grüne das Amt eher der Parteichefin als dem Parteichef zu. Er hat bessere Umfragewerte, gilt aber nach Patzern bei Live-Auftritten als Risikobewerber mit Unfallgefahr. Baerbock sprechen die Grünen mehr Kompetenz in den Themen und eine höhere Stringenz in der Performance zu. Dazu kommt: Eine feministische Partei, die von mehr Frauen als Männern gewählt wird, würde eine Chance vertun, wenn sie den Spitzenjob nicht an eine Frau vergibt.

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Nachdem der Anspruch auf das Regierungsamt verkündet ist, stellen sich härtere Frage: Wie viele Wählerinnen und Wähler trauen es der 40-Jährigen zu, in Verhandlungen mit Wladimir Putin oder Xi Jinping die Interessen Deutschlands durchzusetzen? Baerbock hat es in der Hand, ihren Ruf zu stärken. Die Vorsitzende weiß, dass die skeptische Haltung der Grünen gegenüber robusten Auslandseinsätzen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europas im Wege steht. Sollte sie sich vor der Wahl im offenen Streit gegen die grünen Traditionalisten durchsetzen, würde sie das für größere Aufgaben empfehlen.

Es ist folgerichtig, dass die zweitstärkste Kraft die Führung beansprucht. Noch scheint es eher auf Schwarz-Grün als auf eine grüne Kanzlerin hinauszulaufen. Aber für Baerbock wäre es wohl auch ein Erfolg, wenn sie die erste Außenministerin der Bundesrepublik würde.

In einer früheren Fassung hieß es, Annalena Baerbock sei Politikwissenschaftlerin. Tatsächlich hat sie Völkerrecht studiert.

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