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Mit dem Mord an Nemzow sei in Russland ein neues Zeitalter angebrochen - warnt die Publizistin Julia Latynina.
© AFP

Trauermarsch für Putin-Kritiker Boris Nemzow: Russland unter Schock

Bei einem Trauermarsch erinnerten zehntausende Regimegegner am Sonntag in Russland an den Oppositionsführer Boris Nemzow – sogar der politische Gegner zollt dem Ermordeten Respekt.

"Ich bin Boris. Staatsmacht, schieß auf mich." Mit blauem Filzstift hat eine nicht mehr junge Frau die Worte auf ein Schild gemalt, das sie vor der Brust trägt. Ein Pfeil zeigt dorthin, wo das Herz sitzt. Die mit Pelz besetzte Kapuze hat sie tief in das ernste Gesicht gezogen.

Der uralte Traum russischer Regimegegner von einer Protestdemonstration direkt unter der Kremlmauer ist Sonntagnachmittag in Erfüllung gegangen. Aber nicht als Triumphzug, sondern als Trauermarsch – zum Gedenken an den Freitagabend ermordeten Oppositionsführer Boris Nemzow.

Mit dem Mord, warnte die Publizistin Julia Latynina, eine erbitterte Gegnerin von Kremlchef Wladimir Putin, in ihrem Blog beim kritischen Radiosender Echo Moskwy, sei in Russland ein neues Zeitalter angebrochen: die "Ära der physischen Vernichtung von politischen Gegnern des Regimes". Die Botschaft der Schüsse sei eindeutig: Jeder Teilnehmer von Protestmärschen müsse mit dem eigenen Tod rechnen. "Ich habe keine Angst" stand daher auf vielen Plakaten.

Protest im Stadtzentrum

Zwar hatte die Stadtregierung von Moskau, als sie der Verlegung des ursprünglich als Frühlingsmarsch geplanten Protestes ins Stadtzentrum zustimmte – dort war der 55-jährige Nemzow ermordet worden –, von den Organisatoren verlangt, auf das Skandieren politischer Losungen zu verzichten. Vereinzelt waren dennoch Rufe wie "Russland ohne Putin" oder "Russland wird frei sein" zu hören.

Die Angaben zu den Teilnehmerzahlen sind widersprüchlich. Die Polizei sprach kurz vor Ende des Marsches von rund 16 500, zuvor war von 22 000 die Rede, die vor Beginn der Demonstration die obligatorischen Metalldetektoren passiert hätten. Ex-Premier Michail Kasjanow, wie Nemzow Vorsitzender der oppositionellen, nicht im Parlament vertretenen neoliberalen Partei RRP-Parnass, sprach von rund 50 000 Teilnehmern, genauso viele waren angemeldet. Unabhängige Beobachter zählten rund 22 000 Teilnehmer.

Nemzows Weggefährten standen bei den Protesten noch immer sichtlich unter Schock. Irina Hakkamada, die "Eiserne Lady" der Neoliberalen und über Jahre engste Vertraute von Nemzow, kämpfte mit den Tränen. Sogar politische Gegner zollten ihm Respekt. Regierungschef Dmitri Medwedew nannte Nemzow einen der begabtesten Politiker, die Russland in der Zeit der Übergangsgesellschaft hatte. Prinzipienfest habe er bis zum letzten Atemzug für seine Überzeugungen gekämpft. Sergei Mitrochin, Chef der sozialliberalen Jabloko-Partei, die seit 20 Jahren mit Nemzow um Stimmen aus dem liberalen Lager konkurriert, bezeichnete den Mord und dessen Aufklärung als "Herausforderung für Macht und Opposition".

Fünf mögliche Tatmotive

Putin hatte sich bereits Samstag ähnlich geäußert. Man werde die Mörder finden und bestrafen. Dennoch konnten die Fahnder bisher keine nennenswerten Fortschritte melden. Inzwischen geht die staatliche Ermittlungsbehörde von insgesamt fünf möglichen Tatmotiven aus. Verdächtig sind demzufolge auch islamistische Extremisten. Nemzow gehörte nach dem Anschlag auf das Pariser Satire-Magazin "Charlie Hebdo" im Januar zu den wenigen in Russland, die die Mohammed-Karikaturen vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sahen, und hatte von Radikalen deshalb Drohungen erhalten.

Regimekritiker fürchten, diese Version werde aus taktischen Gründen letztendlich die Oberhand gewinnen, um falsche Fährten zu legen und die wahren Auftraggeber zu schützen – wie schon bei anderen politisch motivierten Morden. Dafür spricht aus ihrer Sicht auch, dass es bisher angeblich nicht einmal Hinweise zu den gedungenen Killern gibt.

Am Tatort, unmittelbar in Kremlnähe gelegen, würden nicht Dutzende, sondern hunderte Kameras jede Bewegung erfassen und festhalten, glaubt Publizistin Latynina. Auch seien die Mörder absolute Experten gewesen. Keiner der insgesamt acht Schüsse, die auf Nemzow abgefeuert wurden, habe die Frau an seiner Seite, eine Bekannte aus der Ukraine, getroffen. Die Polizei setzte für sachdienliche Hinweise eine Belohnung in Höhe von umgerechnet etwa 43 500 Euro aus.

Der Moskauer Fernsehsender TWZ veröffentlichte unterdessen ein Überwachungsvideo, in dem nach Darstellung des Senders zu sehen ist, wie sich Nemzow mit seiner Begleiterin von einem Mann verfolgt wird. Eine Kehrmaschine verdeckt dann die Sicht auf das Paar und den Mann. Wenig später ist zu sehen, wie der mutmaßliche Täter in ein Auto steigt.

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