Mord an Boris Nemzow: Die russische Tragödie
Putins Russland ist heute ein nach innen autokratischer, nach außen chauvinistisch-aggressiver Staat. Unter einem Politiker wie Boris Nemzow, der nun in Moskau ermordet wurde, hätte es anders kommen können. Ein Kommentar.
Ein Mord erinnert daran, was hätte sein können. Das Russland, das Boris Nemzow wollte, und das Russland, das Wladimir Putin geschaffen hat, sind unvereinbar. Ob der Kreml verwickelt ist, werden wir wohl nie erfahren. Die Wahl des Tatorts zeigt aber, wie die Machtverhältnisse heute sind. Die Täter und Auftraggeber fühlen sich sicher, nicht belangt zu werden, wenn sie einen führenden Oppositionellen kurz vor einer Protestdemonstration gegen den Ukrainekrieg auf der Moskwa-Brücke erschießen: in direkter Sichtweite des Kreml, an einem Ort, der von unzähligen Sicherheitskameras überwacht wird. Wir müssen nicht mal darauf achten, keine Spuren zu hinterlassen, soll das heißen. Wir können mit Billigung von oben morden.
Boris Nemzow stand für Russlands Öffnung nach Westen
Die Scheinwerfer des Interesses, die sich nun ein letztes Mal auf Boris Nemzow richten, leuchten zugleich aus, dass Russland nicht dazu verdammt war, der nach innen autokratische, nach außen chauvinistisch-aggressive Staat zu werden, zu dem Putin es gemacht hat. Es gab eine Alternative, als zwischen 1997 und 1999 Boris Jelzins Nachfolge geregelt wurde: die Öffnung nach Westen, die Transformation zu Demokratie, Rechtsstaat und einer echten, sozial verantwortlichen Marktwirtschaft, wie sie frühere Satelliten der Sowjetunion - Polen, Tschechien, die Slowakei, die drei baltischen Staaten - unter Mühen und Leiden, aber erfolgreich durchgestanden haben. Für diesen Weg standen junge Reformer wie Nemzow, der als Gouverneur in Nischnij Nowgorod gezeigt hatte, dass Wandel auch in Russland möglich ist.
Willkommen ist, was die Massen ablenkt
Es kam anders. Es behaupteten sich die Nutznießer eines korporatistischen Staatsmonopolkapitalismus, der auf den Kitt der kommunistischen Lehre verzichten kann und ideologisch beliebig wird: Antifaschismus gepaart mit Antisemitismus, Internationalismus bei gleichzeitiger Verherrlichung des Russentums und Verachtung der Nachbarvölker, Verteufelung westlicher Werte, Homophobie. Willkommen ist, was die Massen davon ablenkt, dass sich die Lebensverhältnisse kaum bessern. Eine kleine Gruppe kann sich obszön bereichern. Das etablierte Geheimdienst-Netzwerk mit vielfältigen Druckmöglichkeiten stellt sicher, dass alternative Politikangebote, die für das Vorgaukeln von Meinungsvielfalt nützlich sind, niemals in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit gelangen.
Vor anderthalb Jahrzehnten entschieden sich der Jelzin-Clan und die neureichen Oligarchen gegen den Aufbruch, weil die Folgen ihnen unkalkulierbar erschienen. Die Bürger hatten die Jahre seit Auflösung der Sowjetunion als eine regellose Zeit erlebt, die 1998 in eine schwere Wirtschaftskrise mit Rubelverfall stürzte. Sie nahm den „neuen Russen“, die die Modernisierung unterstützt hatten, die ökonomische Basis und erleichterte es, den Reformkurs zu diskreditieren.
Putins Ausweg ist eine Sackgasse und wirft Russland weiter zurück
Seither hat Russland keine strategische Vorstellung mehr, wohin es sich entwickeln möchte. Es wurschtelt sich durch, will eine Monopolstellung als Gas- und Öl-Versorger Europas, was nur kooperativ geht, andererseits die Imperialmacht samt eigener Wirtschaftszone zurückgewinnen, was weder die Nachbarn noch die übrige Welt aus freien Stücken mitmachen. Denn Putins Modell hat keine Anziehungskraft für sie. Putins Ausweg – und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt – ist eine Sackgasse und wirft Russland weiter zurück.
So mündet auch diese Tragödie in eine Farce: Der Kreml wird einige der üblichen Verdächtigen verantwortlich machen. Der Mord sei den Kräften zuzuschreiben, die durch eine Provokation die Machthaber diskreditieren wollen. Wer in Putins Russland ermordet wird, ist nicht nur selber schuld. Das Umfeld hat es im Zweifel selbst getan.