Neue Proteste geplant: „Russland steht ein heißer Frühling bevor“
Die Opposition plant neue Proteste für Kremlkritiker Nawalny und gegen Präsident Putin. Worauf hoffen die Menschen? Drei junge Russen erzählen.
Sie wollen zurück auf die Straße. Im Januar demonstrierten Zehntausende für die Freilassung von Alexej Nawalny und gegen Präsident Wladimir Putin. Dann hatten sich seine Mitstreiter eine Pause verordnet, damit die Protestbereitschaft über die Monate nicht abebbt. Denn neue Aktionen sollen sich auch gegen die Parlamentswahl im Herbst richten.
Inzwischen planen sie den nächsten Schritt. „Unsere Aufgabe ist ein gesamtrussischer Protest in diesem Frühjahr“, hieß es vorige Woche in Nawalnys Telegram-Kanal. Ein genaues Datum soll erst bekannt gegeben werden, wenn mindestens eine halbe Million Menschen bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Gezählt wird auf einer eigens eingerichteten interaktiven Karte im Internet. Mehr als 350.000 erklärten sich innerhalb weniger Tage, daran teilzunehmen.
Was erwarten insbesondere junge Russen von der Zukunft? Drei Protokolle.
Iwan, 22, Journalist aus Wladimir
Seit 21 Jahren ist Putin an der Macht, fast mein gesamtes Leben lang. Mit seiner Politik bin ich nicht einverstanden. Wenn alle Macht in den Händen einer Person liegt, kann das nicht gut sein für das Land. Es bereitet mir Sorge, was in Russland geschieht, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist. Weil jede oppositionelle Stimme ausgeschaltet wurde, wird auf ihn wohl ein anderer Autokrat mit KGB-Vergangenheit folgen.
Russlands Machtelite ist geprägt von den Jahrzehnten der Sowjetunion – aber wir leben doch längst in einer anderen Zeit. Ich demonstriere, weil ich auf Veränderung im Land hoffe. Aber die wird es nicht so schnell geben, gewiss nicht in den nächsten fünf Jahren.
Es wird sich erst wirklich etwas verändern, wenn die alten Machthaber ausgestorben sind. So sehen das viele in meiner Generation. Wer zu den Demonstrationen geht, sorgt sich nicht nur um Nawalny. Es geht auch um unsere eigene Zukunft. Nawalnys Festnahme war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Seine Vergiftung, seine Gefängnisstrafe, Putins Palast und die Unterdrückung der Opposition – das war einfach zu viel.
Ich unterstütze Nawalny, aber nicht in allen Punkten. Seine radikalen Ansichten gefallen mir nicht, aber sie spielen keine Rolle mehr. Der Staat hat eine Linie überschritten. Nawalny ist ein politischer Gefangener – und sollte sofort freigelassen werden. Ich will in einem freien Russland leben, mit fairen Wahlen, freien Medien, unabhängigen Gerichten.
Die jüngsten Proteste haben viele Menschen aufgeweckt. Sie verstehen, was vor sich geht, ignorieren Korruption und Ungerechtigkeit nicht mehr. Russland dürfte ein heißer Frühling und Sommer bevorstehen.
Julia, 35, Eventmanagerin aus Moskau
Proteste bringen nichts. Die Menschen gehen auf die Straße, aber alles bleibt, wie es ist. Ich war noch nie bei einer Demo – ich kann ja doch nichts ändern. Veränderung gibt es in Russland nur durch Revolution, das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt. Das möchte ich nicht. Ich bin kein großer Fan der Regierung, aber ich respektiere sie.
Von Nawalny halte ich nicht viel. Ich unterstütze die Regierung, weil sie mich mein Leben leben lässt. Ich arbeite, zahle Steuern – und bin nicht auf den Staat angewiesen. Wer unzufrieden ist in Russland, kann das Land doch verlassen. Dorthin, wo er das System findet, in dem er lieber leben möchte.
[Mehr zum Thema: Knast, Verfolgung, Gewalt :Der Preis, den Nawalnys Getreue zahlen (T+)]
Putin ist über die Jahre immer selbstsüchtiger geworden. Dass er im vergangenen Jahr die Verfassung geändert hat, um länger im Amt zu bleiben, ist reiner Eigennutz. Vor zehn Jahren hätte ich diese Änderung womöglich unterstützt. Damals gab es wirtschaftlichen Fortschritt, wachsenden Wohlstand. Mehr Menschen hätten die Verfassungsänderung begrüßt. Nun ist es zu spät, auch Putin hat ein Ablaufdatum. Ich hoffe, dass er 2024 abtritt. Ein Nachfolger steht sicher schon fest; jemand aus seinem engsten Umfeld – natürlich niemand aus der Opposition.
Ein neuer Präsident wird vielleicht einige Verbesserungen herbeiführen: den Lebensstandard heben, mehr Freiheiten gewähren. An irgendwelche Wunder glaube ich jedoch nicht. Auch der nächste Staatschef wird nicht alles völlig anders machen, auch er wird nicht perfekt sein. Das liegt am System in unserem Land.
Es wird immer welche geben, die sich nur für ihren eigenen Vorteil interessieren, die mehr Einfluss wollen. Eine Vertikale der Macht hat es in Russland schon immer gegeben, nicht erst unter Putin. Egal ob zu Sowjetzeiten oder im Zarenreich – die Macht war immer in den Händen weniger. Es gibt Dinge, die sich nicht verändern lassen. Selbst dann nicht, wenn Tausende Menschen protestieren.
Maria, 35, Aktivistin aus Petrosawodsk
Zur ersten Demonstration im Januar kamen in Petrosawodsk etwa 300 Menschen, zur zweiten vielleicht 400. Das klingt nicht nach viel, aber war der größte Protest, den wir hier je gesehen haben. In der Region Karelien sind die Leute zurückhaltend und introvertiert, wie die Finnen, unsere Nachbarn.
Die Demonstranten unterstützen auch nicht zwingend Nawalny. Sie kamen, weil sie müde sind. Von der Korruption und den unfairen Wahlen und auch, weil sie enttäuscht sind von der lokalen Verwaltung. Die Straßen sind schlecht, im Winter liegt viel Schnee, und es ist schwierig, von einem Ort an den anderen zu kommen, zum Einkaufen beispielsweise. Wir haben hier viele Probleme; mit dem öffentlichen Nahverkehr, den Krankenhäusern, eigentlich mit allem.
Die Menschen sind unzufrieden mit den Lebensbedingungen. Ihr Protest kann Auswirkungen haben auf die Wahlen im September. Wächst das Interesse der Menschen an Politik, werden mehr zur Abstimmung gehen. Nur so lässt sich etwas ändern. Bisher denken die meisten aber, sie verschwenden mit der Wahl nur ihre Zeit.
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Es wäre gut, wenn der Protest auch neue Oppositionspolitiker hervorbringen könnte. Leute mit echten Programmen und Verständnis für Wandel. Nawalny fehlt ein richtiges Programm. Er ist zwar der wichtigste und sichtbarste Oppositionelle, aber er ist eine Medienpersönlichkeit, kein echter Politiker. In Russland fehlt ein Kandidat, der die Demokratie erneuern kann.
Entscheidend für die Menschen hier im Norden ist: Wir wollen Politik in den Regionen gestalten. Russland ist offiziell ein föderaler Staat, tatsächlich aber wird der Kreml immer mächtiger. Nur vor Ort ist zu verstehen, welche Politik es hier braucht. Von Moskau aus ist das schwer zu erkennen.