Deutsche Reaktionen auf Türkei-Referendum: Ruf nach Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei ist in Deutschland die Diskussion über Konsequenzen voll entbrannt. Was ist jetzt zu tun?
Nach dem Ja der Türken zur Verfassungsreform von Präsident Recep Tayyip Erdogan fordern Spitzenpolitiker von Union, Linke und FDP einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara. „Die Vollmitgliedschaft kann kein Ziel mehr sein“, sagte der stellvertretende CSU-Vorsitzende Manfred Weber im ZDF. Ähnlich äußerte sich CDU-Vize Julia Klöckner.
Die Bundesregierung hielt sich angesichts des knappen und umstrittenen Ergebnisses zunächst mit Kommentaren zurück. Außenminister Sigmar Gabriel rief zur Besonnenheit auf. „Wir sind gut beraten, jetzt kühlen Kopf zu bewahren und besonnen vorzugehen“, erklärte der SPD-Politiker am Sonntag.
Die Türken stimmten nach Angaben der Wahlkommission mit gut 51 Prozent für die Verfassungsreform, die dem Präsidenten deutlich mehr Macht gibt. Die Opposition, die eine Ein-Mann-Herrschaft befürchtet, will das Ergebnis aber nicht akzeptieren.
Verhandlungen auf Eis
Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind seit langem umstritten. Die Europäische Union hatte sie 2005 aufgenommen, zuletzt aber keine neuen Kapitel mehr in Angriff genommen. Die Verhandlungen lagen also quasi auf Eis. Abbrechen wollte die EU sie bisher aber nicht, um der Türkei die Tür nicht endgültig zuzuschlagen. Die Wiedereinführung der Todesstrafe gilt allerdings als rote Linie, die nicht überschritten werden darf.
Weber bezeichnete die Beitrittsperspektive für die Türkei als „Lebenslüge“, die nun vom Tisch genommen werden müsse. Die Staats- und Regierungschefs müssten bei ihrem nächsten Gipfeltreffen in zwei Wochen eine Neubewertung der Beziehungen zur Türkei vornehmen, sagte der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament.
Klöckner schrieb in der „Huffington Post“: „Die Tür zu einem EU-Beitritt ist nun endgültig zu - und finanzielle Heranführungshilfen an die EU sind spätestens jetzt hinfällig.“ Die Türkei hatte im Zuge des Beitrittsprozesses zwischen 2007 und 2013 4,8 Milliarden Euro von der EU erhalten. Für den Zeitraum 2014 bis 2020 sind weitere 4,45 Milliarden Euro eingeplant.
Auch FDP-Präsidiumsmitglied Alexander Graf Lambsdorff forderte ein Ende der Beitrittsverhandlungen, „damit die Beziehungen zu diesem wichtigen Nachbarland sich endlich von diesem gescheiterten, zombiehaften Prozess lösen und auf eine ehrliche Grundlage gestellt werden können“.
Linke und Grüne: Konsequenzen für militärische Kooperation
Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok plädierte in einem „Welt“-Interview dafür, die Beitrittsverhandlungen nur bei einer Wiedereinführung der Todesstrafe abzubrechen. Erdogan hatte nach seinem Sieg beim Referendum gesagt, er sehe es als seine „erste Aufgabe“ an, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen. "Dann ist der EU-Beitritt der Türkei gescheitert", sagte Brok.
Der Ausgang des Referendums allein ist für Brok noch kein Grund, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei offiziell abzubrechen. "Man soll nicht Türen endgültig zuschlagen", sagte der Außenexperte. Er verwies darauf, dass die Beitrittsgespräche seit einem halben Jahr wegen des von Erdogan ausgerufenen Notstands eingefroren seien, "und jetzt werden sie nicht weitergehen, weil die Bedingungen nicht mehr erfüllt sind".
Wegen des Referendums könne die EU nicht "gleich sämtliche Beziehungen zur Türkei abbrechen", sagte Brok. "Mit einem totalen Bruch würden wir uns an der anderen Hälfte der türkischen Bevölkerung versündigen, die mit Nein gestimmt hat", fügte der CDU-Politiker hinzu.
Die Visafreiheit sei derzeit schwierig auszuhandeln. Aber wenn sie käme, bringe sie auch für Deutschland mehr Sicherheit, sagte Brok. "Denn sie ist an fälschungssichere biometrische Pässe und an die zwingende Prüfung des individuellen Aufenthaltsstatus nach drei Monaten geknüpft", erklärte der CDU-Politiker. "Wir wissen dann also sehr genau, wer zu uns kommt."
Linke und Grüne forderten nach dem Referendum auch Konsequenzen für die militärische Zusammenarbeit mit der Türkei: Die rund 260 auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten müssten abgezogen und alle Waffenlieferungen an den Nato-Partner gestoppt werden, forderten die Spitzenkandidaten der beiden Parteien, Sahra Wagenknecht und Cem Özdemir.
Statt eines „Merkel-Erdogan-Pakts“ müsse es nun ein Bündnis Deutschlands mit den Demokraten in der Türkei geben, sagte Wagenknecht der Deutschen Presse-Agentur. „Die Bundesregierung ist gefordert klarzumachen, auf wessen Seite sie steht: Auf der Seite der Demokratie oder auf der Seite der Diktatur Erdogans.“ Auch Özdemir forderte im Fernsehsender „Phoenix“ eine Neubewertung der deutsch-türkischen Beziehungen.
Cem Özdemir verlangt klares Bekenntnis zum Grundgesetz
Özdemir forderte zudem von den Deutsch-Türken in der Bundesrepublik ein klareres Bekenntnis zum Grundgesetz. „Die Auseinandersetzung um Herz und Verstand der Türkeistämmigen muss endlich aufgenommen werden“, sagte Özdemir der Deutschen Presse-Agentur. „Künftig muss stärker darauf bestanden werden, dass auf Dauer in Deutschland Lebende nicht nur mit den Zehenspitzen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, sondern mit beiden Füßen.“
Das Wahlergebnis zeige „in einem Brennglas“ die Versäumnisse in der Integrationspolitik, sagte Özdemir. Die wahlberechtigten Türken in Deutschland haben in dem Referendum zu fast zwei Dritteln für die Verfassungsreform gestimmt, die Präsident Recep Tayyip Erdogan deutlich mehr Macht gibt. Nach inoffiziellen Medienangaben votierten 63 Prozent mit „Ja“, insgesamt waren es nur 51,3 Prozent.
Auf die Türken, die „gegen die orientalische Despotie“ gestimmt hätten, kämen wohl schwere Zeiten zu, sagte Özdemir. „Die Menschen, die sich für Demokratie eingesetzt haben, brauchen unsere Unterstützung gerade jetzt.“
CDU-Politiker Polenz schließt nicht auf mangelnde Integration
"Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass diese Sichtweise nicht gerechtfertigt ist", kommentierte hingegen der CDU-Politiker Ruprecht Polenz die Stellungnahmen, die von einer mangelhaften Integration sprachen. Er setzte die Zahl der etwa mehr als 400.000 Befürworter eines Präsidialsystems in Relation zu den 3,5 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland. "Deshalb von gescheiterter Integration DER TÜRKEN zu sprechen, wird der Realität nicht gerecht", schrieb Polenz bei Facebook.
Von den Türkischstämmigen verfügten überhaupt nur 1,5 Millionen über einen türkischen Pass. "Das kann viele Gründe haben", sagte der Münsteraner. "Jedenfalls wird man daraus nicht schließen können, dass diese Türken noch in besonderer Weise auf die Türkei orientiert bei uns leben."
Türkische Gemeinde: Wie Menschen besser erreichen?
Die Türkische Gemeinde in Deutschland zeigte sich besorgt darüber, dass hierzulande so viele Türken für die umstrittene Verfassungsreform stimmten. Man müsse sich überlegen, wie man die Menschen besser erreicht, „die in Deutschland in Freiheit leben, aber sich für die Menschen in der Türkei die Autokratie wünschen“, sagte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu der „Heilbronner Stimme“ und dem „Mannheimer Morgen“. In Deutschland stimmten rund 63 Prozent der Wahlberechtigten für die Verfassungsreform. (Tsp, dpa)
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