Merkel und die ominöse 35: Reise-Lockdown könnte bis in den April dauern
Bei einer „stabilen Sieben-Tage-Inzidenz“ von höchstens 35 soll es Lockerungen geben. Aber was heißt stabil? Ein Erklärungsversuch.
Seit sich Kanzlerin Angela Merkel am Mittwochabend mit den Länderchefs verständigt hat, besteht Erklärungsbedarf. Denn der Beschluss zu den Lockerungen ist so einfach nicht zu verstehen. Merkel selbst hat mit umständlichen Äußerungen, was denn unter einer „stabilen Sieben-Tage-Inzidenz“ zu verstehen ist, Verwirrung gestiftet.
Erst nannte sie drei Tage, dann drei bis fünf, nun auch 14 Tage. Wann soll nun eigentlich was mit welchem Vorlauf geöffnet werden?
„Aus heutiger Perspektive“ – so beginnt der entscheidende Punkt 6 im Beschlusspapier vom Mittwoch – „insbesondere vor dem Hintergrund der Unsicherheit bezüglich der Verbreitung von Virusmutanten, kann der nächste Öffnungsschritt bei einer stabilen 7-Tage-Inzidenz von höchsten 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern durch die Länder erfolgen.“
Und das soll die Öffnung des Einzelhandels sein, der Museen und Galerien. Sowie der körpernahen Dienstleistungen, die bisher noch nicht aufmachen dürfen. Für Merkel, das sagte sie im ZDF-Interview am Freitagabend, muss der Inzidenzwert von 35 auf Landesebene erreicht sein.
Allerdings gibt es auch einen Punkt 7 im Papier vom Mittwoch, in dem unmissverständlich vereinbart wurde, dass Länder oder Kreise, die einen Inzidenzwert von 50 nicht unterschreiten, umfangreiche lokale oder regionale Maßnahmen beibehalten oder ergreifen werden, um eine schnelle Senkung der Infektionszahlen zu erreichen.
Kein Hin-und-Her-Effekt
Die etwas verwirrende Kombination von „35“ und „50“ lässt sich aber erklären: Offenkundig wollen Bund und Länder den ersten Öffnungsschritt erst zu einem Zeitpunkt, der eine gewisse Sicherheit verspricht, dass nicht bald hernach eine Rücknahme erfolgen muss, weil die Infektionszahlen wieder deutlich nach oben gehen. Daher erst runter auf 35, um dann bei leichtem Anstieg der Inzidenz nicht schon wieder gegensteuern zu müssen. Ein Hin-und-Her-Effekt soll vermieden werden.
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Über die genannten Bereiche hinaus haben sich Bund und Länder Entscheidungen vorbehalten. Eine Öffnungsstrategie für die privaten Kontaktbeschränkungen, für Kultur, Sport, Freizeit, Gastronomie und Hotels soll vorbereitet werden und beim nächsten Treffen am 3. März zumindest zur Sprache kommen, auch wenn noch nicht klar ist, ob es dann schon konkrete Beschlüsse geben wird.
Merkels drei Stränge
Aber Merkel hat nun skizziert, wie sie sich das vorstellt in den kommenden Wochen. Drei Stränge hat sie genannt – Bildungseinrichtungen, private Kontaktbeschränkungen und den öffentlichen Kultur- und Freizeitbereich, erst eher Kinos und Theater und Sport „und dann auch Restaurants und eines Tages die Hotels“. Welche Öffnungsschritte aus welchem Strang erfolgen sollen, will sie dann mit den Ländern klären.
Offenkundig will sie zunächst weder zügige noch geballte Lockerungen. Ihr Weg bleibt der der Vorsicht. Nach der Öffnung des Handels sollen weitere Öffnungsschritte erst erfolgen, „wenn wir stabil bei 35 bleiben, 14 Tage lang, und der vorherige Öffnungsschritt nicht zu einem Anstieg der Fallzahlen geführt hat“. Das sei ihre „Öffnungsstrategie“.
So soll mit dem permanenten Betonen der „stabilen 35“ als Voraussetzung für Öffnungen eine Art stabiler Puffer entstehen, um nicht schnell wieder die selbst gesetzte Rücknahmegrenze von 50 zu überschreiten. Was ihre Strategie zeitlich bedeuten würde, hat Merkel nicht gesagt. Aber es dürfte, endend mit den Hotels, wohl bis in den April hinein dauern.
Dass Friseursalons am 1. März wieder öffnen können, ist ausgemachte Sache. Wobei Angela Merkel in ihrem Erklärinterview das wieder an eine erreichte Inzidenz von 50 gebunden hat - die sie allerdings für 1. März erwartet. Im Papier steht dazu ausdrücklich nichts. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagte im Tagesspiegel-Sonntagsinterview nur, dass in seinem Land die Friseure am 1. März öffnen dürfen. Offenkundig inzidenzunabhängig.
Wo liegen Länder und Kreise aktuell?
Ob Merkel mit ihrem Plan bei den Ministerpräsidenten ankommt, wird sich zeigen. Weil jedenfalls ist skeptisch. „Dass beispielsweise die Gastronomie erst anfangen kann, überhaupt über Umsätze nachzudenken, wenn wir alle weit unter 35 sind, das halte ich schon für sehr schwierig.“
Unklar ist, ob nach dem 7. März (bis dahin bleiben ja die Einschränkungen) der Einzelhandel überhaupt schon großräumig öffnen kann. Aktuell liegt kein Bundesland unter einem Inzidenzwert von 35. Am nächsten dran sind Baden-Württemberg (48,5) und Rheinland-Pfalz (46,6). Berlin liegt mit 57,2 im Mittelfeld, den schlechtesten Wert hat Thüringen mit 97,6.
Aber immerhin schon etwa 70 Kreise haben, Stand Sonntag, einen Inzidenzwert von unter 35 erreicht. Da von der kommenden Woche an aber wieder mehr Präsenzunterricht an Schulen stattfindet und auch Kitas wieder mehr Kinder aufnehmen können, ist nicht sicher, ob der Rückgang der Infektionszahlen nicht einen Dämpfer bekommt und die Zahlen stagnieren oder leicht nach oben gehen. Von der Mutantenverbreitung ganz abgesehen.