Hat die Schwelle von 50 ausgedient?: Drei Gründe für die 35er Inzidenz
Monatelang hat Angela Merkel den Inzidenzwert 50 als Zielmarke hochgehalten. Da wirkt die neue Benchmark 35 erst einmal willkürlich. Doch es gibt Argumente.
Wolfgang Kubicki wittert offenen Rechtsbruch. Dass Bund und Länder den Grenzwert für ihre Corona-Einschränkungen von 50 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.00 Einwohner auf 35 gesenkt haben, prophezeit der freidemokratische Jurist, werde vor Gericht landen.
Das mag sogar sein. Ob ein Kläger recht bekäme, ist aber zweifelhaft. Denn die 35 ist nicht aus reiner Willkür zur neuen 50 geworden.
Der Beschluss des Corona-Gipfels, erste Öffnungen in Handel, Kultur und körpernahen Dienstleistungen erst ab einem über mehrere Tage stabilen Inzidenzwert unter 35 zu erlauben, hat eine politische, eine epidemiologische und eine rechtliche Dimension.
Die politische ist leicht zu erkennen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte auch die Schulen noch bis 1. März geschlossen halten. Die Länder lehnten nahezu einmütig ab, akzeptierten aber im Gegenzug, weitere Lockerungen erst ab 35 Neuinfektionen zu erlauben. Der Wert könnte um den 7. März herum erreicht werden, bis zu dem der jetzige Lockdown vorerst weiter gilt.
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Aus Sicht der Epidemieforscher sind die 35 sogar eher noch zu hoch. Denn die SarsCoV-2-Mutation B117 wirft alle bisherigen Grenzwerte über den Haufen. Das Turbo-Virus ist weit ansteckender als die Urform, und es wird sie nach den Gesetzen der Evolution unerbittlich auch hierzulande verdrängen. Im Ergebnis, sagen Virologen, sei das wie eine neue, noch schwerere Epidemie.
Noch energischer muss folglich die Gegenwehr ausfallen, um eine massive dritte Welle zu verhindern. Die Alarmschwellen und Faustformeln der Pandemiebekämpfung verschieben sich in der neuen B117-Welt. Vielen Experten wäre es bei Inzidenzen unter 20 oder 10 erheblich wohler, einige fordern sogar, das Ziel Null anzupeilen.
Rechtlich hat der Bundestag im vorigen November den Schwellenwert 35 im Infektionsschutzgesetz verankert.
Der neue Paragraph 28a über eine epidemische Notlage von nationaler Tragweite schreibt bei Inzidenzen über 50 „umfassende Schutzmaßnahmen“ für eine „effektive Eindämmung“ der Pandemie vor. Bei Werten über 35 sollen „breit angelegte“ Schritte unternommen werden, um eine „schnelle Abschwächung“ zu bewirken.
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Konkreter als in dieser Ansammlung unbestimmter Rechtsbegriffe wollte der Gesetzgeber bewusst nicht werden. Was die Stufen unterscheidet, lässt reichlich Spielraum für Auslegung.
Doch ein Recht, sich Lockerungen zu erklagen, ist ausdrücklich nicht gewollt. Auch bei Unterschreiten der Schwellenwerte 50 oder 35 dürfen verhängte Maßnahmen aufrechterhalten werden, „soweit und solange“ das nötig sei, um Corona zu stoppen.
Trotzdem halten es auch Rechtspolitiker der Koalition für denkbar, dass das Gesetz an neue Schwellenwerte angepasst wird, wenn genügend Erfahrungen für den Umgang mit den neuen Varianten vorliegen. CSU-Chef Markus Söder hat die 35 ja schon als „vorsichtige Benchmark“ eingestuft. „Vorläufige“ wäre vielleicht richtiger gewesen.