Brexit: Reif für den Ernstfall
Der BDI warnt Firmen vor einem „hartem Brexit“. Schon jetzt meiden viele Fachkräfte wegen des fallenden Pfund-Kurses die Insel.
Die deutsche Wirtschaft stellt sich auf die Möglichkeit ein, dass die Brexit-Verhandlungen komplett scheitern. Deutsche Unternehmen mit einem Standbein in Großbritannien und Nordirland müssten „Vorsorge für den Ernstfall eines sehr harten Ausscheidens“ Großbritanniens aus der EU treffen, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang, am Donnerstag in Berlin. „Alles andere wäre naiv.“
Seit Monaten kommen die Brexit-Verhandlungen zwischen London und den verbleibenden 27 EU-Ländern kaum voran. Dabei drängt die Zeit: Bevor die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens wie geplant am 29. März 2019 endet, ist eine Austrittsvereinbarung nötig. Diese Vereinbarung muss in etwa einem Jahr stehen, damit anschließend noch genügend Zeit zur parlamentarischen Ratifizierung bleibt. In der Austrittsvereinbarung geht es um die Höhe der britischen Austrittsrechnung, die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien sowie die Gestaltung der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Ohne eine solche Vereinbarung und ohne Übergangsregelung für die Zeit nach dem 29. März 2019 droht wirtschaftliches Chaos – mit der abrupten Wiedereinführung von Zollkontrollen sowie zahlreichen neuen Hemmnissen für Logistik, Flug- und Datenverkehr.
Bilaterales Handelsvolumen von mehr als 170 Milliarden Euro
Dass sich auch die deutsche Industrie ernsthaft mit einem solchen „No deal“-Szenario beschäftigt, machte BDI-Hauptgeschäftsführer Lang am Donnerstag deutlich: „Ab dem ersten Tag eines ungeregelten Austritts hätten Unternehmen es mit enormen Unsicherheiten im Außenhandel untereinander, mit anderen Staaten, beim Marktzugang und in der Regulierung zu tun.“ Ob beim Brexit in 18 Monaten nun ein Deal zu Stande kommt oder nicht – nach der Ansicht von Lang wird der EU-Austritt in erster Linie Großbritannien in Mitleidenschaft ziehen. „Doch er wird auch Deutschland treffen“, fügte er hinzu. Das bilaterale Handelsvolumen zwischen beiden Länder liegt bei mehr als 170 Milliarden Euro, gut 400.000 Arbeitsplätze im Vereinigten Königreich werden von deutschen Firmen bereitgestellt. Vor allem die deutsche Autoindustrie hat massiv auf der Insel investiert.
Deutsche Unternehmen im Vereinigten Königreich kämpften bereits heute mit der Abwanderung vieler Fachkräfte, sagte Lang. Für viele ausländische Arbeitnehmer lohne sich wegen des Wertverlustes des Pfunds die Arbeit in Großbritannien finanziell nicht mehr, sagte er zur Begründung.
Industrieverband gründete "Task Force Brexit"
Um auf alle möglichen Brexit-Szenarien vorbereitet zu sein, hatte der BDI im Frühsommer gemeinsam mit weiteren Verbänden und Unternehmen eine gemeinsame „Task Force Brexit“ gegründet. Die 190 Mitglieder der Task Force dürften in dieser Woche dem Parteitag der Konservativen in Manchester ein besonderes Augenmerk gewidmet haben. In ihrer Rede hatte Regierungschefin Theresa May am Mittwoch den Brexit weit gehend ausgespart. Dabei hatte sie sich bemüht, einerseits die EU-27 nicht zu verprellen. Bei einer Rede in Florenz hatte May im September das Angebot gemacht, dass Großbritannien während einer etwa zweijährigen Übergangsphase über den März 2019 hinaus im Binnenmarkt bleiben könne. Auf der anderen Seite machte May in Manchester auch Zugeständnisse an die Befürworter eines „harten Brexit“. So erklärte sie, dass sich die Regierung auch darauf vorbereite, die EU notfalls ohne Vereinbarung zu verlassen, falls die Brexit-Gespräche scheitern sollten. Dies hatte zuvor am Rande des Parteitags der Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten, Damian Green, als unwahrscheinlich bezeichnet.
BDI fordert längere Übergangsperiode
„Der Parteitag der Tories zeigt, wie zerstritten die Partei in Sachen Brexit ist,“ sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Lang. „Die inhaltliche Ausrichtung der Brexit-Strategie ist innerhalb der Partei völlig offen. Das macht die weiteren Verhandlungen so schwierig.“
Lang hält indes nach dem Brexit eine anschließende Übergangsperiode von zwei Jahren für zu kurz. „Das ist sehr schwer vorstellbar“, sagte er mit Blick auf die Forderung des britischen Außenministers Boris Johnson, die geplante Übergangsphase auf maximal zwei Jahre zu begrenzen. „Die Übergangsphase muss so lange dauern, bis ein neues Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien in Kraft tritt“, forderte Lang.
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