Evakuierung Ost-Aleppos: Regierungstreue Milizen greifen Krankentransport an
Rebellengruppen sprechen von einer neuen Waffenruhe in Aleppo, noch am Donnerstag sollen Zivilisten die Stadt verlassen können. Doch Aktivisten berichten von anhaltenden Kämpfen.
Einen Tag nach dem Scheitern einer Waffenruhe in der umkämpften syrischen Stadt Aleppo haben Rebellengruppen eine Waffenruhe verkündet. Vertreter der Gruppen Nureddin al-Sinki und Ahrar al-Scham verkündeten am Mittwoch, nach Verhandlungen zwischen Russland und dem türkischen Roten Halbmond sei diese in Kraft getreten. Von Seiten der syrischen Regierung gab es dazu keine Bestätigung.
Unmittelbar vor der geplanten Evakuierung Ost-Aleppos haben jedoch regierungstreue Milizen am Donnerstag einen Krankentransport angegriffen. Der Konvoi mit Verletzten sei unter Beschuss genommen worden, noch bevor er das Rebellengebiet verlassen konnte, teilte der Chef des Rettungsdienstes mit. Dabei seien drei Menschen verletzt worden, darunter ein Sanitäter. Ein Reuters-Reporter, der sich in der Nähe aufhielt, berichtete von minutenlangem heftigem Geschützfeuer.
Aus regierungsnahen Medienkreisen hieß es, Busse zum Transport der Menschen seien unterwegs. Das internationale Rote Kreuz erklärte, es sei von den Parteien gebeten worden, Verletzte aus Ost-Aleppo zu bringen. Krankenwagen ständen zur Versorgung der Menschen bereit.
Mehrere Rebellenmilizen hatten am Mittwochabend über eine neue Waffenruhe berichtet, die im Laufe der Nacht in Kraft treten sollte. Die ersten Verletzten und Zivilisten sollten die von der Opposition gehaltenen Viertel demnach in den Morgenstunden verlassen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan telefonierte am Abend mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin, um den vereinbarten Abzug von Zivilisten und Rebellen aus Aleppo doch noch zu ermöglichen. Beide Präsidenten hätten betont, dass die vereinbarte Waffenruhe umgesetzt und Verstöße dagegen gestoppt werden müssten, verlautete aus Erdogans Umfeld. Sie seien zudem einig, dass die Evakuierung von Zivilisten und Rebellen über sichere Fluchtkorridore "so bald wie möglich" beginnen müsse.
In den vergangenen Tagen war es den syrischen Regierungstruppen mit Unterstützung der russischen Luftwaffe sowie schiitischer Milizen unter anderem aus dem Iran gelungen, den seit 2012 von den Rebellen gehaltenen Ostteil Aleppos fast vollständig zurückzuerobern. Dort leben noch zehntausende Menschen.
Am Dienstag hatte Russland ein Ende der Kampfhandlungen verkündet, am Mittwoch flammten die Kämpfe in der zweitgrößten Stadt Syriens aber wieder auf. Auch eine Vereinbarung zum Abzug von Zivilisten und Aufständischen, die am Dienstag von Rebellengruppen verkündet und von Russland und der Türkei bestätigt worden war, scheiterte zunächst.
Am Mittwoch waren die Kämpfe in Aleppo Thema einer Sondersitzung im UN-Sicherheitsrat in New York. US-Botschafterin Samantha Power griff bei dem Treffen den Vertreter Syriens sowie seine Verbündeten Iran und Russland scharf an: "Können Sie wirklich keine Scham fühlen?", fragte sie an die drei Länder gewandt.
Viele Menschen in Ost-Aleppo standen am Mittwoch mit gepackten Taschen im strömenden Regen bereit. Sie fürchteten nach monatelangem Bombardement Plünderungen und Gewalt syrischer Truppen. Zudem ist die medizinische Versorgung zusammengebrochen. Lebensmittel und Trinkwasser fehlen. In den umkämpften Stadtteilen wurden noch Zehntausende Menschen vermutet. Die UN beschrieben die Lage als "kompletten Zusammenbruch der Menschlichkeit". Hochkommissar Al-Hussein erklärte, die syrische Regierung sei für die Sicherheit der Menschen verantwortlich.
Unterdessen demonstrierten in Kopenhagen fast 7000 Menschen gegen das Bombardement Aleppos. In Istanbul kamen mehr als tausend Menschen vor dem iranischen Konsulat zusammen. In Kuwait versammelten sich rund 2000 Menschen vor der russischen Botschaft. In Paris demonstrierten mehrere hundert Menschen. Dort wurde die Beleuchtung des Eiffelturms abgeschaltet - als Protest gegen die "unerträgliche" Lage der Zivilisten in Aleppo, erklärte Bürgermeisterin Anne Hidalgo.
Russland, die Türkei und der Iran wollen nach türkischen Angaben in knapp zwei Wochen über eine Lösung des Syrien-Konflikts beraten. Das Treffen werde am 27. Dezember in Moskau stattfinden, sagte Außenminister Mevlut Cavusoglu dem Fernsehsender TGRT Haber. Die Regierung in Ankara bemühe sich schon länger um einen landesweiten Waffenstillstand und den Beginn von Verhandlungen über eine politische Lösung, sagte Cavusoglu.
Die Türkei, Russland und der Iran unterstützen im Syrien-Konflikt entgegengesetzte Seiten: Russland und der Iran sind die wichtigsten Verbündeten von Staatschef Baschar al-Assad und unterstützen die Regierungstruppen auch militärisch. Die Türkei hilft in Syrien dagegen oppositionellen Kräften im Kampf gegen Dschihadisten. Das türkische Militär geht in Syrien zudem gegen kurdische Milizen vor, um deren Vormarsch dort zu stoppen.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lehnt Sanktionen gegen Russland wegen des Vorgehens im Syrien-Konflikts ab. "Das wird Russland nicht beeindrucken", sagte er bei der Aufzeichnung der ZDF-Sendung "Was nun, Herr Juncker?". Solche Forderungen zeugten von "Naivität". Europa könne letztlich nur versuchen, "mit den Mitteln der Diplomatie Einfluss zu nehmen".
Juncker wandte sich gegen Kritik, dass Europa im Syrien-Konflikt nicht genug getan habe. "Hätten wir Soldaten hinschicken sollen?", fragte er. Er glaube nicht, "dass es viele Europäer gibt, die wegen Syrien sterben möchten". Europa dringe aber "mit allen Mitteln" darauf, dass es "humanitäre Lösungen" für die Zivilbevölkerung gebe.
Kriegsverbrechen und totale Straflosigkeit
Hilfsorganisationen bereiten die Evakuierung der Stadt vor. Es brauche einen sofortigen und unbefristeten Stopp der Kämpfe, betonte die Regionalverantwortliche von World Vision, Conny Lenneberg, am Mittwoch in Friedrichsdorf.
Der Chefberater der Organisation, Tim Costello, mahnte eine politische Lösung für Syrien an. „Aleppo sieht aus wie Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg“, sagte er. Und der Krieg in Syrien sei noch nicht vorbei. „Wenn wir den Menschen nicht helfen, sind wir nur Barbaren.“
Die Lage vor Ort sei unklar und ungewiss, sagte Unicef-Sprecherin Ninja Charbonneau im SWR. Teils hätten sich neue Notlager gebildet, in denen es jedoch weder Schutz vor Kälte noch sanitäre Anlagen gebe. Zivilisten müssten Aleppo sicher verlassen dürfen, „und zwar an einen Ort ihrer Wahl. Und es ist auch ganz wichtig, dass Familien dabei nicht getrennt werden.“ Sobald der Zugang möglich sei, könnten „sehr schnell zehntausende Menschen“ versorgt werden, fügte die Expertin hinzu.
Die vorbereiteten Auffangorte der Regierung reichen nach Einschätzung des maronitischen Erzbischofs von Aleppo, Joseph Tobji, nicht aus. „Man hat nicht mit so vielen Menschen gerechnet“, sagte er dem Sender Radio Vatikan. In der Stadt gebe es keine maronitische Kirche mehr; Weihnachten werde in einer zur Hälfte zerstörten Kathedrale gefeiert werden. Allerdings gebe es nun „endlich Hoffnung auf ein bisschen Frieden“, fügte der Erzbischof hinzu.
Carla Del Ponte, Mitglied der Unabhängigen Internationalen UN-Untersuchungskommission für Syrien, forderte ein Sondertribunal für syrische Kriegsverbrecher. Solch ein Tribunal könne schneller arbeiten als der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, sagte Del Ponte der „Zeit“ (Donnerstag). Nach fünf Jahren Krieg in Syrien sei die "Zahl der Verbrechen so groß", dass ein Sondergericht wie im Fall von Jugoslawien nötig sei.
Die frühere Chefanklägerin der Tribunale für Jugoslawien und Ruanda ordnet den Beschuss von Wohnhäusern, Krankenhäusern, Schulen und Hilfskonvois durch russische und syrische Flugzeuge als "Kriegsverbrechen" ein. Auch die Taktik syrischer Regimetruppen, Städte abzuriegeln und auszuhungern, wertet Del Ponte als Kriegsverbrechen. Dennoch herrsche bislang "totale Straflosigkeit„. Insofern solle die UN-Vollversammlung ein Tribunal beschließen: "In der Vollversammlung gibt es kein Vetorecht".
Auch Amnesty International sprach von Anzeichen für Kriegsverbrechen. Die Berichte über massakrierte Zivilisten seien “zutiefst schockierend, aber nicht überraschend„, sagte Amnesty-Mitarbeiterin Lynn Maalouf. Die Regierungstruppen hätten während des gesamten Bürgerkriegs gegen die Menschenrechte verstoßen.
Der führende syrische Oppositionelle Hadi al-Bahra machte am Mittwoch Syriens Regierung für die Verzögerung der Evakuierungen verantwortlich. Das Regime mache einen Rückzieher, erklärte der frühere Vorsitzende des größten Oppositionsbündnisses Syrische Nationale Koalition über Twitter.
Der Iran hat Syrien zum Sieg über die Aufständischen in der Stadt Aleppo derweil gratuliert. „Wir gratulieren dem syrischen Volk zum Erfolg gegen die Terroristen und Elemente unruhestiftender Regierungen und zur Befreiung Aleppos“, sagte Parlamentspräsident Ali Laridschani am Mittwoch. Der Iran werde auch weiterhin sowohl Syrien als auch den Irak im Kampf gegen „Terroristen“ unterstützen, sagte der Parlamentspräsident laut Nachrichtenagentur ISNA. Die heftige Kritik der USA und des Westens am Iran - und an Russland - wegen deren Unterstützung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wies Laridschani zurück. Seiner Ansicht nach sei „dieses ganze Gerede“ nur ein Versuch, die gescheiterte Politik des Westens in Syrien, Irak und Jemen zu vertuschen und mit Panikmache weiterhin lukrative Waffengeschäfte mit den Arabern abzuschließen.
Die Türkei will derweil eine Zeltstadt für bis zu 80.000 Flüchtlinge aus Aleppo aufbauen. Das kündigte der stellvertretende Ministerpräsident Mehmet Simsek am Dienstagabend an, ohne allerdings Details zu nennen. Die Türkei beherbergt bereits rund 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien.
Hat der Westen versagt?
Das Drama in Aleppo schürt auch die Debatte über die Verantwortung des Westen. Sicherheitsexperten und Verteidigungspolitiker werfen ihm vor, zu spät und zu unentschlossen auf den Syrienkonflikt reagiert zu haben. Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, sagte der "Bild"-Zeitung: "Man kann nicht die Absetzung eines Diktators fordern, dann die Hände in den Schoß legen und hoffen, dass er freiwillig abtritt: Mit dem Verlust seiner Glaubwürdigkeit hat der Westen auch die Fähigkeit verspielt, der syrischen Bevölkerung zu Hilfe zu kommen."
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte eine sofortige Waffenruhe für Aleppo. „Es ist nicht zu spät, mehr sinnloses Blutvergießen zu verhindern“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Am Dienstag habe Merkel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert und sich für eine Waffenruhe sowie den ungehinderten Zugang humanitärer Helfer eingesetzt. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier plädierte für einen politischen Prozess zur Beendigung des Syrienkrieges, fügte aber hinzu, er könne sich „nicht vorstellen“, dass die politische Zukunft Syriens mit Assad gestaltet werden könne.
Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, warf den Westmächten vor, erst aktiv geworden zu sein, als aus dem Syrienkonflikt eine Flüchtlingskrise wurde. "Der Westen hat nicht nach Syrien geschaut, als es 250.000 Tote gab, sondern erst, als die ersten 10.000 Flüchtlinge kamen", sagte er der Zeitung. "Diese Ignoranz hat ein Vakuum geschaffen, das Putin mit Bomben gefüllt hat", fügte er mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin hinzu, der den syrischen Machthaber Baschar al-Assad militärisch unterstützt.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), kritisierte, dass die Reaktion des Westens nicht abgestimmt gewesen sei. "Es hätte so etwas geben müssen wie eine gemeinsame Politik des Westens, ein gemeinsames Angebot an Russland zur Kooperation in der Luft und am Boden, die Entschlossenheit, notfalls alleine zu schützen und die Ankündigung, russischen Militäreinsatz mit wirtschaftliche Sanktionen zu beantworten", sagte Röttgen der "Bild"-Zeitung. Er fügte hinzu: "Nichts von alledem hat es gegeben." (dpa, rtr, AFP, KNA)
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