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Ein Pfleger hält im Alten-und Pflegeheim Joachim-Neander-Haus der Diakonie in Düsseldorf die Hand einer Bewohnerin.
© dpa/Oliver Berg
Exklusiv

Leiden von Schwerkranken: Regierung ignoriert Sterbehilfe-Urteil

Das Bundesverwaltungsgericht hatte entschieden, dass Menschen in Ausnahmefällen tödliche Medikamente zu sich nehmen dürfen. Das Gesundheitsministerium umging das Urteil - mit Vorsatz.

Im Streit um das Sterbehilfe-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hat das Bundesgesundheitsministerium entgegen öffentlichen Kundgaben frühzeitig beabsichtigt, den Richterspruch zu umgehen. Dies geht aus Vermerken und internen E-Mails des von Minister Jens Spahn (CDU) geführten Ministeriums hervor, die der Tagesspiegel nach einer erfolgreichen Informationsklage vor dem Verwaltungsgericht Köln einsehen konnte (Az.: 5 L 261/18). Kriterien für eine Freigabe tödlich wirkender Medikamente zu entwickeln, „würde die bisherige ethisch-politische Linie von Herrn Minister konterkarieren“, heißt es bezogen auf Spahns Amtsvorgänger Hermann Gröhe (CDU) in einem Vermerk vier Tage nach dem Urteil. Eine Umsetzung sei „kaum vorstellbar“, auch die Leitung des für die Genehmigungen zuständigen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn könne dies „nicht mittragen“.

21 Patienten sind in der Wartezeit schon gestorben

Das Bundesverwaltungsgericht hatte im März 2017 letztinstanzlich entschieden, dass Schwerkranke in einer unerträglichen Leidenssituation vom BfArM ausnahmsweise eine Erlaubnis zum Erwerb tödlich wirkender Betäubungsmittel erhalten können. Seitdem haben 109 Patienten Anträge gestellt. 21 Patienten sind mittlerweile gestorben. Wie das BfArM mitteilt, habe die Behörde im August begonnen, die ersten Anträge förmlich abzulehnen. Sieben solcher Versagungen seien bisher verschickt worden.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) führt die strikte Linie seines Amtsvorgängers Hermann Gröhe (CDU) fort.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) führt die strikte Linie seines Amtsvorgängers Hermann Gröhe (CDU) fort.
© Roland/dpa

Ex-Verfassungsrichter Di Fabio empfahl, das Urteil vorerst zu übergehen

Anlass ist ein Schreiben des Staatssekretärs im Gesundheitsministerium Lutz Stroppe von Ende Juni, in dem dieser das BfArM darum bittet, die Anträge pauschal abzulehnen. Es könne „nicht Aufgabe des Staates sein, Selbsttötungshandlungen (...) aktiv zu unterstützen“. Dies wäre „mit den Grundwerten unserer Gesellschaft“ nicht zu vereinbaren, schrieb Stroppe. Zudem berief er sich auf ein vom BfArM in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten des Ex-Verfassungsrichters Udo Di Fabio, in dem dieser empfiehlt, das Sterbehilfe-Urteil per Erlass zu übergehen, bis der Bundestag eine Neuregelung getroffen hat. „Die Ergebnisse des Gutachtens entsprechen unserer Einschätzung.“

Das Gutachten wurde nur für die "politische Kommunikation" gebraucht

Wie die jetzt freigegebenen Dokumente belegen, standen Ergebnisse und Einschätzungen jedoch von vornherein fest. Das Gutachten wurde nur gebraucht, um es nach außen als möglich erscheinen zu lassen, vom Urteil abzuweichen. Laut einem Vermerk kurz nach der Entscheidung wurde umgehend erwogen, einen „renommierten Verfassungsrechtler“ einzuschalten: „Ziel sollte sein, für die öffentliche und politische Kommunikation anhand eines solchen Gutachtens klarstellen zu können, dass das Bundesverwaltungsgericht hier eine (...) fehlgehende Entscheidung getroffen hat“.

Das BfArM betont dennoch, die Anträge erst „nach sorgfältiger Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der individuellen Umstände“ abgelehnt zu haben. Allerdings enthalte Stroppes Brief eine „Anweisung“, die im weiteren Verlauf der Verfahren „zu berücksichtigen“ sei.

Die SPD-Fraktion diskutiert noch

Der FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae warf Minister Spahn vor, die Vorgaben des Urteils zu verkennen und sich einer „dringend notwendigen sachlichen Debatte“ zu verschließen. Nötig seien „klare Regeln bei der assistierten Sterbehilfe“. Die SPD erklärte, die Diskussion in der Fraktion sei noch nicht abgeschlossen. Gesundheitspolitikerinnen von Union und Grünen verwiesen auf die Strafbarkeit geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Die AfD sagte auf Anfrage nichts.

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