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Winter in Thüringen. Dunkle Februarwolken über Holzhausen. Sieht es nicht auch in der Politik so aus?
© Martin Schutt / dpa

Sigmar Gabriel zu Thüringen und den Folgen: Raus aus der mentalen Gefangenschaft der AfD!

Die Parteien müssen aufhören, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Antidemokraten und Rechtsradikale dürfen nicht die Tagesordnung bestimmen. Ein Weckruf.

Sigmar Gabriel war SPD-Vorsitzender und mehrfach Bundesminister. Von Januar 2017 bis März 2018 war er deutscher Außenminister. Er ist Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört. Außerdem ist er Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Demnächst geht er als Aufsichtsrat zur Deutschen Bank.

Die AfD bestimmt die politische Tagesordnung in Deutschland. Sie schafft es, in Thüringen die Falle für CDU und FDP zuschnappen zu lassen, in welche diese beiden Parteien aufgrund ihrer Machtversessenheit nur allzu bereitwillig hineingetappt waren.

Danach ging es zu wie auf einer mexikanischen Hochzeit, bei der jemand in die Luft schießt und anschließend alle durcheinanderlaufen und nach dem Ausgang suchen. Gefunden wurde er in Thüringen bis heute nicht. Die Akteure machen sich und die parlamentarische Demokratie weiter lächerlich, ohne dass die AfD dazu noch einen Beitrag leisten muss.

Damit aber nicht genug: Nun gibt auch noch die erst vor 14 Monaten gewählte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer auf, weil sie erkennbar nicht einmal mehr genug Autorität gegenüber ihrem Thüringer Landesverband hatte, um den von seinem Irrsinnsplan mit der AfD abzuhalten oder wenigstens nach dem schnellen Ende dieser Mesalliance Neuwahlen zu akzeptieren

Eine Sozialdemokratisierung der ganz besonderen Art, denn eine derart kurze Verweildauer im Parteivorsitz kennt man sonst nur aus der SPD. Dahinter steckt der Niedergang der zweiten deutschen Volkspartei. Nach der SPD schafft es auch die CDU nicht mehr, den Spannungsbogen innerhalb ihrer Partei aufrechtzuerhalten.

Fleisch aus ihrem Fleische

Zu groß ist der Unterschied zwischen dem liberal-konservativen und dem reaktionären Lager innerhalb der CDU. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, wo größere Teile der Union immer noch glauben, die dortige rechtsradikale AfD sei im Grunde „Fleisch aus ihrem Fleische“.

Die CDU sucht jetzt nach einer Führungsfigur, die diesen Spagat wieder schafft, um die Union wieder über die 30-Prozent-Marke zu bringen – oder wenigstens knapp darunter. Es kann bezweifelt werden, dass dies angesichts der immer heterogener werdenden Gesellschaft noch gelingen kann, in der es schwierig geworden ist, verbindende Themen zu identifizieren.

Das Ende der alten Volksparteien ist ja gerade nicht Folge falscher Personalauswahl, sondern vor allem der wachsenden Individualisierung unserer Gesellschaft, in der alle genau wissen, was für sie selbst wichtig ist, in der aber immer unklarer ist, was dieses Land zusammenhält.

Eine Re-Ideologisierung hin zum früheren Konservativismus jedenfalls ist ein ebenso aussichtsloses Unterfangen wie der Versuch der SPD, in die Zeit vor dem Godesberger Programm und zur Klassenkampfrhetorik zurückzukehren. Man muss sich nur einmal kurz vorstellen, was früher die konservative CDU ausgemacht hat: für Atomenergie, gegen Ganztagsschulen, Islam und Einwanderung, für die Wehrpflicht, gegen die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe.

Gefahr der Entmodernisierung

Nichts davon ist heute mehr mehrheitsfähig in Deutschland. Angela Merkels große Leistung für die CDU war doch, den liberalen, grünen und SPD-nahen Wählergruppen die Angst vor der CDU zu nehmen. Wer das zurückdrehen wollte, würde die CDU entmodernisieren, aber sicher nicht zukunftstauglich machen.
Die große Sorge der Union ist, dass die FDP inzwischen unter ihrem Vorsitzenden Christian Lindner einen solchen Totalschaden erlitten hat, dass sie dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören wird. Einer schwachen CDU droht dann eine grün-rot-rote Mehrheit mit einem grünen Bundeskanzler.

Auch das dürfte hinter dem überraschend schnellen Rückzug von Frau Kramp-Karrenbauer stecken. Denn weder sie selbst noch andere trauen ihr diesen Herkulesakt noch zu. Wer immer Kramp-Karrenbauer im CDU-Vorsitz folgt: Er wird sich genau überlegen, ob er den strategischen Fehler seiner Vorgängerin wiederholen sollte, Anhängsel der regierenden Kanzlerin zu bleiben, oder ob er lieber die ganze Macht anstrebt – also auch das Amt des Kanzlers übernehmen will. Das ist die eigentliche Frage, um die es derzeit in der CDU geht.

Schluss mit dem Stillstand

Angesichts der drohenden wirtschaftlichen Krise in Deutschland und Europa, der großen Mängel in der Infrastruktur, der Bildung oder der inneren Sicherheit, der fehlenden internationalen Bereitschaft zum Klimaschutz, der Krisen der arabischen Welt und in Afrika, der großen Migrationsbewegungen, der Veränderungen in der transatlantischen Partnerschaft und der Nato – Deutschland braucht alles andere als Stillstand und Selbstbeschäftigung.

Wenn die demokratischen Parteien in Deutschland nicht zeigen, dass sie mehr an der Lösung dieser wirklich großen Herausforderungen interessiert sind als an sich selbst, dann braucht die AfD nur weiter abzuwarten. Diese Feinde der offenen Gesellschaft wissen offenbar besser als deren Freunde und engagierte Verfechter: Die Demokratie kann sich selbst von innen heraus zerstören, indem sie dem Anspruch nicht mehr gerecht wird, die Aufgaben des allgemeinen Wohls zu bewältigen.

Machtversessenheit und Vergessenheit

Wenn Parteien und politisch handelnde Personen gar alle Vorurteile über ihre Machtversessenheit und die Machtvergessenheit bestätigen, wie es in Thüringen der Fall war, dann ist es ein Leichtes für die Propaganda der Antidemokraten und Rechtsradikalen, die Tagesordnung der Politik in Deutschland zu bestimmen.

So platt es sich anhören mag, aber der erste Schritt, das zu ändern und sich aus der mentalen Gefangenschaft der AfD zu befreien, wäre, sich wieder dem Land und seinen Menschen zuzuwenden. Wer abends ins Internet geht, kann den Eindruck gewinnen, das ganze Land sei entweder verrückt geworden oder würde sich mit Belanglosigkeiten beschäftigen.

Geht man dann morgens aber vor die Haustür, so trifft man den ganzen Tag fast ausschließlich normale Menschen, die sich am Arbeitsplatz engagieren, im Ehrenamt aktiv sind oder ihren Kindern abends auf der Bettkante eine Geschichte vorlesen.

Dieser Mehrheit der Deutschen wird viel zu selten gesagt, dass sie stolz auf das Erreichte und Geleistete sein dürfen. Und zwar im Osten wie im Westen des Landes.

Verlust jeder Autorität

Statt dessen halten wir es inzwischen für den „guten Ton“, alles und vor allem jeden im Land zu kritisieren und verächtlich zu machen. Der Verlust jedweder Autorität – vom Bundespräsidenten und dem Verfassungsgericht mal abgesehen – hat uns nicht etwa nur zu einem aufgeklärten und liberalen Land gemacht, sondern viele Menschen auch auf sich selbst zurückgeworfen.

Wer niemandem mehr traut, lebt nicht etwa frei, sondern einsam. Das gilt auch für eine Demokratie. Das Land und die Menschen, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist, gelegentlich zu loben, ist eine allzu lang vernachlässigte politische Aufgabe.

Und die politischen Parteien, ihre Repräsentanten und die von ihnen geschaffenen oder verwalteten Institutionen gehören auch zur Erfolgsgeschichte Deutschlands. Trotz aller Fehler und trotz manch menschlichem Unvermögen.

Mut machen ist die vielleicht wichtigste Aufgabe, um eines Tages unseren Kindern ein mindestens ebenso gut bestelltes demokratisches Haus zu übergeben, wie es uns von unseren Eltern erhalten haben.

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