Übergriffe gegen Frauen in Köln: Ralf Jäger schießt daneben
Der NRW-Innenminister sagt: "Wir nehmen es nicht hin, dass sich nordafrikanische Männergruppen organisieren, um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen." Doch genau das tut er, meint der Rechtsanwalt und Kolumnist Heinrich Schmitz in seinem Gastkommentar.
Was Innenminister halt so sagen. Innenminister sind traditionell die Meister starker Worte, häufig die Meister starker Forderungen nach mehr Sicherheitsgesetzen und aus ihrer Sicht nie an etwas schuld. Jägers Satz ist der falscheste Satz, den ich im jungen Jahr 2016 bisher gehört habe. Und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Selbstverständlich haben „wir“ – wer auch immer damit gemeint sein mag, jedenfalls insbesondere der Innenminister – es hingenommen, dass sich in Köln und anderen Großstädte seit Jahren eine Trickdiebszene etablieren konnte, die immer größer und immer dreister wird. Dass die überwiegend aus „nordafrikanischen“ Männern besteht, konnte jeder, also wirklich jeder, seit Jahren wissen. Die konnte auch jeder im Hauptbahnhof, im Umfeld des Bahnhofs und auf der Treppe an der Philharmonie beobachten, wenn er sich da mal ein Stündchen aufgehalten hat. Das ist nichts wirklich Neues.
Wenn man sich die Struktur der Taten aus der Silvesternacht einmal ohne Schaum vor dem Mund und Tahrirbilder im Kopf ansieht, dann fällt ja auch auf, dass die Mehrzahl der kriminellen Handlungen nicht etwa Vergewaltigungen, sondern Trickdiebstähle waren. In vielen, nicht aber in allen Fällen, die Rede ist von ca. 15, kam es zu widerlichen Ablenkungsmanövern in Form vordergründig sexueller Handlungen durch Begrapschen und Befingern von Frauen. Das macht nun den einzelnen Übergriff nicht besser und es hebt auch das Strafmaß für die Täter auf eine andere Stufe als bei anderen Ablenkungstricks, wie dem Antanzen oder dem in Köln besonders erfolgreichen Poldi-Trick.
Gleichwohl wurden hier sexuelle Handlung ganz offenkundig von Trickdieben eiskalt genutzt, um die Opfer zu bestehlen – und nicht in erster Linie um sie zu „erniedrigen“. Wie gesagt, das ändert nichts an dem Leid der Opfer, es sollte aber auch von Jäger nicht so getan werden, als sei die sexuelle Erniedrigung der Frauen das primäre Ziel von also triebgesteuerten Tätern gewesen. Denen geht es um Handys und Portemonaies. Erniedrigung oder triebgesteuertes Verhalten war wohl – sofern die Informationen da zutreffend sind – nur in einem Fall von Vergewaltigung so.
Jäger schießt daneben
Jägers Schluss, die Männergruppen würden sich organisieren, „um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen“, geht komplett am Thema vorbei. Sie tun das aus anderen Gründen.
Aber ganz egal aus welchen Gründen diese Täter es getan haben und – weil die Methode natürlich maximale Ablenkung verspricht – weiter tun werden, es sind Straftaten, auf die jetzt nicht nur markiges Politgelaber folgen muss, sondern echte Konsequenzen. Wenn es möglich ist – was ich ernsthaft bezweifle – unmittelbar für die Täter aus der Silvesternacht in Form von Strafen, sicher aber für den Rechtsstaat. Der geht nämlich sonst bald vor die Hunde.
Und zwar nicht, weil er von bösen Ausländern oder gar Bürgerkriegsflüchtlingen „angegriffen“ wird, sondern schlicht und ergreifend, weil ein wesentlicher Teil des Rechtsstaats von den nach Taten immer so großmäuligen Politikern nicht mit den finanziellen und personellen Mitteln ausgestattet wird, die erforderlich sind, um rechtsstaatliche Garantien halbwegs zu erfüllen.
Polizei und Justiz sind seit Jahren chronisch unterbesetzt und eben nur noch mit Mühe und Not halbwegs in der Lage, das Nötigste zu tun. Das gefährdet nicht nur die Sicherheit in den Großstädten. Die Überforderung betrifft nicht nur „die Polizei“ als solche, sondern auch die einzelnen Beamtinnen und Beamten, deren Krankenstand historisch hoch ist. Die gehen buchstäblich am Stock. Ironischerweise hat das auch etwas mit den Dauerdemonstrationen von denen zu tun, die den Rechtsstaat eh nicht für einen halten, aber auch mit den zusätzlich zu erbringenden Leistung bei der Registrierung der Flüchtlinge.
Wer Delikte nicht verfolgt, lädt zu Straftaten ein
Aber diese zusätzlichen Aufgaben sind nur ein Teil der Ursachen für die aktuelle Misere. Was ebenso stark ins Gewicht fällt, ist eine seit Jahren andauernde völlig verfehlte Personalplanung im Bereich der Justiz. Es kann eben nicht nur die schwarze Null sein, die die oberste Maxime des Handelns ist. Das betrifft jetzt nicht nur Herrn Jäger, sondern auch seine Kollegen in den Ländern und im Bund.
Wenn „kleinere“ Delikte, wie Trick- und Ladendiebstähle gar nicht mehr ernsthaft verfolgt und nur noch lustlos verwaltet werden können, wenn auch der Bürger seine Anzeige nur noch wegen der Versicherung macht und nicht mehr, weil er ernsthaft mit Ermittlungen der Polizei rechnet, dann ist das ein richtig geiles Signal an die Diebe aus aller Welt. Kommet herbei und nehmet alle davon, hier wird Euch kein Leid getan, oder so.
Selbst wenn es der Polizei einmal gelingt, einen Täter dingfest zu machen, liegen die Akten so lange bei Staatsanwaltschaft und Gericht herum, bis die Strafe schon fast keinen Sinn mehr macht. Nicht, weil die Juristen da faul wären, sondern weil sie die Aktenberge gar nicht mehr ernsthaft bearbeiten können. Da muss wie am Fließband eingestellt werden, damit man nicht in Akten erstickt. Fatale Signale. Nur schnelle Verurteilungen sind gute Verurteilungen. Und nur wenn bisher nicht erwischte Täter sehen, dass ihre Kumpels auch mal schnell im Bau verschwinden, könnten sie ans Nachdenken kommen. Ganz so falsch ist die Mao wohl fälschlich zugeschriebene Weisheit, „Bestrafe einen, erziehe hundert“ nicht.
Natürlich sind Ermittlungen bei Kapitalverbrechen wichtiger, das ist nicht die Frage, aber wenn bei dem ganzen vermeintlichen Kleinkram nichts Spürbares geschieht, dann brechen irgendwann alle Dämme. Und diese Dämme brechen dann gleich in zwei Richtungen.
Die Kleinganoven werden immer dreister und es geschehen häufiger Taten, wie sie in Köln passiert sind, wo die Grenzen des Trickdiebstahls in ekelhafter Weise überschritten wurden – ohne dass es der Polizei gelungen wäre, auch nur einen Täter auf frischer Tat zu schnappen. Auf der anderen Seite werden die Bürger irgendwann nahezu zwangsläufig nach privaten Gegenmaßnahmen Ausschau halten, sich legal oder illegal bewaffnen oder gar „Bürgerwehren“ bilden, die dann – von den falschen Kameraden infiltriert – schnell zu einer eigenständigen Gefahr für andere Bürger und eben auch für den Rechtsstaat werden.
Dann bröckelt auch die Rechtsstaatsbasis
Wenn die Institutionen des Rechtsstaats nicht schleunigst mit ausreichenden Mitteln versorgt werden, dann nehmen wir nicht nur einzelne Taten hin, dann nehmen wir sehenden Auges in Kauf, dass dieser Rechtsstaat, der die Basis eines verträglichen Zusammenlebens ist, erst bröckelt und sich dann langsam, aber sicher auflöst.
Auch ein funktionierender Rechtsstaat kann keine absolute Sicherheit garantieren, aber er kann und muss den Bürgern vermitteln, dass er ihre Rechtsgüter ernst nimmt, sie zu schützen bereit und dazu auch grundsätzlich in der Lage ist. Daran sollten gerade die Politiker und Regierungsverantwortlichen der demokratischen Parteien ein vitales Interesse haben. Noch ist es nicht zu spät.
Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. Sein Kommentar erschien zuerst auf dem Debattenportal "Die Kolumnisten".
Heinrich Schmitz