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Rechtsanwalt Musa Farisogulla sitzt nun in Untersuchungshaft.
© Sertac Kayar/Reuters

Erdogan entzieht eigenmächtig Mandate: Putsch gegen das Parlament

Der türkische Präsident wirft drei Oppositionspolitiker aus der Volksvertretung – und strebt möglicherweise Neuwahlen an.

„AKP – Feind der Demokratie“: Mit gereckten Fäusten und wütenden Sprechchören protestierten die Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP am Donnerstagabend gegen die Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die gerade den Rauswurf von drei Oppositionspolitiker aus der Volksvertretung verkündet hatte. Die Opposition wirft der Regierung „Faschismus“ und einen Putsch gegen die Demokratie vor.

Nur wenige Stunden nach der Parlamentssitzung wurden die drei Politiker in Untersuchungshaft gesteckt. Mit der Entfernung der Abgeordneten aus dem Parlament will die AKP ihre Gegner weiter schwächen – und möglicherweise vorgezogene Neuwahlen vorbereiten. Die drei Politiker – Leyla Güven und Musa Farisogullari von der HDP und Enis Berberoglu von der säkularistischen CHP – waren wegen angeblicher Terrordelikte zu Haftstrafen verurteilt worden. Alle drei wehren sich mit Verfassungsklagen gegen die Urteile, doch nun wurden ihnen ihre Mandate entzogen, obwohl die Entscheidung des obersten Gerichts über ihre Fälle noch aussteht.

Der HDP-Vorsitzende und stellvertretende Parlamentspräsident Mithat Sancar sagte unserer Zeitung in Istanbul, seine Partei werde sich nicht aus dem Parlament zurückziehen, sondern weiter in der Volksvertretung für die Demokratie kämpfen. „Alle Probleme müssen mit demokratischen Mitteln gelöst werden“, sagte Sancar. Kurdische Gruppen in Deutschland riefen für diesen Samstag zu Protestkundgebungen in der ganzen Bundesrepublik auf.

Leyla Guven auf einem Foto von 2019 als sie sich in einem Hungerstreik befand.
Leyla Guven auf einem Foto von 2019 als sie sich in einem Hungerstreik befand.
© Umit Bektas/Reuters

Die Gerichtsverfahren gegen die Abgeordneten waren ganz klar politisch motiviert: Berberoglu sollte dafür bestraft werden, dass er angeblich Informationen über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an syrische Rebellen an eine Zeitung weitergegeben hatte. Güven und Farisogullari werden von der AKP als HDP-Vertreter verdächtigt, die kurdische Terrorgruppe PKK zu unterstützen. Besonders in politischen Prozessen urteilt die türkische Justiz häufig nach Vorgaben der Regierung.

Erdogan rückt die Opposition in die Nähe von Terroristen

Obwohl die Gerichtsurteile gegen die drei Abgeordneten schon Jahre zurückliegen, hatte die AKP das Thema bisher nicht ins Parlament gebracht. Nun aber nutzte die Regierungspartei die erste Sitzungswoche nach einer Corona-Pause, um die Urteile im Parlament verlesen zu lassen und den Oppositionsabgeordneten damit die Mandate abzuerkennen.

Die AKP erklärte, der Entzug der Mandate entspreche den parlamentarischen Regeln. Eher dürfte es der AKP aber darum gehen, ihre politischen Gegner zu kriminalisieren. Erdogan rückt CHP und HDP immer wieder in die Nähe von Terroristen. Dutzende HDP-Bürgermeister sind seit der Kommunalwahl im vergangenen Jahr abgesetzt worden. Auch gegen Ekrem Imamoglu, CHP-Bürgermeister von Istanbul und potenzieller Herausforderer Erdogans bei der Präsidentenwahl in drei Jahren, wird ermittelt.

Auch der Jurist Enis Berberoglu ist von Erdogans Maßnahme betroffen.
Auch der Jurist Enis Berberoglu ist von Erdogans Maßnahme betroffen.
© Umit Bektas/Reuters

Vieles deutet darauf hin, dass die Wahlen schon vor 2023 stattfinden könnten. Die AKP und ihre rechtsnationale Partnerin MHP dementieren zwar, dass sie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorziehen wollen. Doch die Hinweise auf Wahlvorbereitungen mehren sich. Ebenfalls in dieser Woche beschloss das Parlament mit Regierungsmehrheit, eine Hilfspolizei-Miliz zu bewaffnen.

Die Volksvertretung soll außerdem demnächst über ein neues Gesetz abstimmen, mit dem die gegenseitige Unterstützung von Oppositionsparteien durch den Parteiwechsel von Abgeordneten verboten werden soll. Mit dem Abgeordnetentransfer können sich kleinere Parteien die Teilnahme an Wahlen sichern, ohne die sonst nötigen Voraussetzungen wie den Nachweis von Parteibüros in mindestens der Hälfte des Landes zu erfüllen. Derzeit bauen die ehemaligen Erdogan- Mitstreiter Ali Babacan und Ahmet Davutoglu eigene Parteien auf, die AKP-Wähler abwerben wollen.

Die AKP ist weit von der Mehrheit entfernt

Auf den ersten Blick erscheint eine Neuwahl für Erdogan nicht ratsam. Einigen Umfragen zufolge sind Erdogan und die AKP derzeit weit von einer Mehrheit entfernt. Zwar habe Erdogan angesichts der schwierigen Wirtschaftslage keine guten Angebote an die Wähler in der Hand, sagte der Journalist und AKP-Kenner Rusen Cakir kürzlich im Internetkanal Medyascope. Doch im Jahr 2023 werde die Wirtschaftslage voraussichtlich noch schlechter sein. Außerdem wolle der Präsident die relativ gute Bilanz der Türkei in der Coronakrise ausnutzen.

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