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Auch die EU beklagt einen Demokratie-Abbau in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdogan.
© XinHua/dp

Türkei erstmals als „Autokratie“ eingestuft: Erdogans Regierung teilt erneut gegen Zivilgesellschaft aus

Einschränkung der Pressefreiheit, Missachtung von Bürgerrechten, Aushebelung der Gewaltenteilung. Die Bertelsmann-Stiftung bewertet die Türkei negativ.

„Es lebe der 1. Mai“, rufen die Mitglieder des linken türkischen Gewerkschaftsbundes Disk, die sich am Freitag in Istanbul versammelt haben. Sie wollen unter Einhaltung der Corona-Abstandsregeln zum zentralen Taksim-Platz marschieren, um ein Blumengebinde niederzulegen, doch sie kommen nicht weit. Die Polizei nimmt die Verbandschefin Arzu Cerkezoglu und mehr als ein Dutzend weitere Gewerkschafter fest. Offiziell wird die Polizeiaktion mit dem Ausgehverbot in der Pandemie begründet, doch Vertreter regierungsnaher Gewerkschaften werden zum Platz durchgelassen. Oppositionspolitiker werfen den Behörden vor, sie wollten jeden Protest gegen die Regierung im Keim ersticken.

Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Minister weisen solche Vorwürfe von sich. Sie betonen das demokratische Mandat für Staatschef und Regierung und beschuldigen ihre Gegner, den Wählerwillen mit unlauteren Mitteln aushebeln zu wollen. Allerdings werden in Erdogans Präsidialsystem inzwischen kritische Äußerungen von der Justiz so unnachgiebig verfolgt, dass Hunderte Oppositionspolitiker, Journalisten und Intellektuelle im Gefängnis sitzen.

Die EU beklagt einen Demokratie-Abbau in Ankara. Die Bertelsmann-Stiftung geht in ihrem neuen „Tranformationsindex“, der den Zustand von Demokratie und Marktwirtschaft in aller Welt untersucht, noch einen Schritt weiter: Sie stuft die Türkei erstmals als „Autokratie“ ein, und zwar „aufgrund massiver Einschränkung der Pressefreiheit, grober Missachtung von Bürgerrechten und Aushebelung der Gewaltenteilung“.

Streit mit Anwaltskammer

Wie um ihre Kritiker zu bestätigen, demonstriert Erdogans Regierung derzeit in einem Streit mit der Anwaltskammer von Ankara ihre Intoleranz gegenüber Kritik jeder Art. Dabei geht es um den Direktor des staatlichen Religionsamtes, Ali Erbas, der Ehebruch und Homosexualität als Ursachen für Krankheiten und als unislamisch gebrandmarkt hatte. Als Beispiel verwies Erbas in einer Predigt zum Fastenmonat Ramadan auf die Ausbreitung von HIV/Aids. Die Anwaltskammer in der Hauptstadt erwiderte, man solle sich nicht wundern, wenn demnächst zur Hexenverbrennung aufgerufen werde.

Unbarmherziges Vorgehen der Regierung

Dagegen stellte sich Erdogan hinter den Chef des Religionsamtes und erklärte, jeder Angriff auf die Behörde sei ein Angriff auf den Staat. Das Religionsamt reichte Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Beleidigung gegen die Anwaltskammer Ankara ein. Laut Medienberichten plant Erdogans Regierungspartei AKP nun Gesetzesänderungen, um die Anwaltskammern auf Linie zu bringen. Erdogans Regierungspartei AKP nahm zudem kürzlich Tausende inhaftierte Regierungskritiker von einer Amnestie aus, mit der die Ausbreitung des Coronavirus in türkischen Gefängnissen verhindert werden soll.

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Zum Teil erklärt sich das unbarmherzige Vorgehen der Regierung mit dem Schock des Putschversuches von 2016. Der Staat müsse hart gegen seine Gegner vorgehen, um neue Umsturzversuche auszuschließen.

Kolumnist Mehmet Yilmaz sieht noch einen anderen Grund dafür, dass die Erdogan-Regierung den Druck auf Kritiker erhöht. Die Türkei sei eine Autokratie, weil der Präsident alle Macht in seinen Händen gebündelt habe, schrieb Yilmaz in einem Beitrag für die Nachrichtenplattform T24.

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