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Da war er noch in Freiheit: Der Kunstmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala 2014 im EU-Parlament. 
© Wiktor Dabkowski/dpa

Trotz Freispruch vor drei Monaten: Türkischer Bürgerrechtler Osman Kavala sitzt weiterhin in Haft

Kurz nach dem Freispruch wurde der türkische Kunstmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala erneut verhaftet. Seine Frau spricht von Rachejustiz.

Vor über drei Monaten stand Ayse Bugra vor dem Gefängnistor, um ihren Ehemann abzuholen: Nach mehr als zwei Jahren in Untersuchungshaft war der Kunstmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala am 18. Februar vom Vorwurf des Umsturzversuches freigesprochen worden. 

Kavala verschenkte seinen Kühlschrank an einen Mitgefangenen und packte seine Sachen – doch er kam nicht aus dem Gefängnis heraus. Noch bevor seine Frau ihn in die Arme schließen konnte, erging ein neuer Haftbefehl gegen ihn.

Entsetzlich schwer sei es, damit zu leben, erzählte Ayse Bugra jetzt dem alternativen türkischen Internetsender „Medyascope“. Zum Schmerz über die Trennung komme die Angst, dass sich ihr Mann in der Haft mit dem Coronavirus infizieren könnte. 

„Das nimmt einen Menschen natürlich stark mit, in diesen Zeiten getrennt zu sein, das erschüttert einen durch und durch“, sagte Bugra. Nun hat das Europäische Menschenrechtsgericht in letzter Instanz von der Türkei verlangt, Kavala freizulassen – doch eine Woche nach dem Urteil sieht es nicht danach aus, als wolle Ankara die Anordnung der Europa-Richter befolgen.

Vorwurf, Kavala habe die Gezi-Proteste organisiert

Präsident Recep Tayyip Erdogan nennt Kavala, den 62-jährigen Gründer der Kulturstiftung Anadolu Kültür, einen staatsfeindlichen Aktivisten, der 2013 die Gezi-Proteste organisiert habe, um seine Regierung zu stürzen. 

Zwar urteilte ein Gericht im Februar, für diesen Vorwurf gebe es keine Beweise. Doch nur wenige Stunden nach dem Freispruch erließ die Justiz den neuen Haftbefehl, diesmal wegen angeblicher Verstrickung in den islamistischen Putschversuch von 2016.

Schon im Dezember hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg geurteilt, Kavala müsse sofort freigelassen werden: Die Untersuchungshaft aufgrund von fadenscheinigen Vorwürfen stelle einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention dar. Die Türkei legte Beschwerde gegen das Urteil ein. Doch am 11. Mai wies Straßburg die Beschwerde zurück; das Urteil erlangte Rechtskraft.

Als Mitglied des Europarates ist die Türkei verpflichtet, Urteile der Europa-Richter umzusetzen. Das werde auch geschehen, wenn es keine Einspruchsmöglichkeit mehr gebe, sagte Cevdet Yilmaz, ein Vizevorsitzender von Erdogans Regierungspartei AKP, nach dem jüngsten Kavala-Urteil im Gespräch mit ausländischen Journalisten.

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Doch das Justizministerium hat bisher nicht erkennen lassen, ob und wann Kavala aus der Haft entlassen werden soll. Ankara argumentiert, das Straßburger Urteil beziehe sich nur auf die ursprüngliche Verhaftung, nicht auf den Haftbefehl vom Februar – eine Auffassung, die nach Angaben von Kavalas Anwälten vom Menschenrechtsgericht nicht geteilt wird.

Kavalas Ehefrau Ayse Bugra hat den Glauben an die türkische Justiz längst verloren. Dass ihr Ehemann vor Kurzem auch noch von einer Teil-Amnestie ausgenommen blieb, die wegen der Coronavirus-Gefahr in den Gefängnissen erlassen wurde, verbittert sie: Der Straferlass klammerte ausdrücklich alle politischen Häftlinge aus

„Das kann man doch nicht anders nennen als Rachejustiz, oder? Das ist jedenfalls kein normales Justizverfahren, das sieht ja jeder.“

Auch Bundesregierung zweifelt an türkischer Justiz

Ayse Bugra, eine 68-jährige Sozialwissenschaftlerin und Professorin für Politische Ökonomie an der Bosporus-Universität in Istanbul, ist seit der Inhaftierung ihres Mannes stark gealtert; ihre Stimme zittert beim Sprechen. Dabei hatte Ayse Bugra nach Osman Kavalas Festnahme am 18. Oktober 2017 anfangs noch auf die Justiz vertraut.

„Ich habe damals gesagt, jetzt ist die Justiz am Zuge, warten wir doch mal ab. Ich habe alle zu beschwichtigen versucht. Aber das ist inzwischen anders. Ich kann leider nicht mehr sagen, dass ich auf die Justiz und ihre Unabhängigkeit vertraue.“

Zweifel an der türkischen Justiz äußerte vor wenigen Tagen auch die deutsche Bundesregierung. Die anhaltende Inhaftierung von Osman Kavala trotz des Straßburger Urteils sei nicht nachvollziehbar, erklärte die Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler. Die Türkei müsse ihren Verpflichtungen nachkommen. 

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Ähnliche Appelle kommen auch von anderen Staaten und internationalen Organisationen. Die Solidarität sei groß, sagt Ayse Bugra. Nach dem neuen Urteil kann das Ministerkomitee des Europarats die Türkei auffordern, Kavala freizulassen. Als letztes Mittel könnte der Europarat die Türkei sogar ausschließen.

Die türkische Justiz ist in den vergangenen Jahren auf Regierungslinie gebracht worden. Wenn Erdogan einen Angeklagten wie Kavala öffentlich als Verbrecher beschimpfe, gebe er Richtern und Staatsanwälten damit den Kurs vor, sagen Kritiker. Riza Türmen, ein Oppositionspolitiker und ehemaliger türkischer Menschenrechtsrichter in Straßburg, sieht den Fall Kavala deshalb als Test für die Türkei. 

Nach der jüngsten Entscheidung aus Straßburg gebe es für das Land in der Frage der Freilassung von Osman Kavala kein Wenn und Aber mehr, schrieb Türmen in einem Beitrag für die Nachrichtenplattform T24. Am Umgang mit Kavala werde abzulesen sein, „ob es in der Türkei noch letzte Reste des Rechtsstaates gibt“.

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