Biden sagt „unerschütterliche Unterstützung“ zu: Putin verlegt massiv russische Truppen Richtung Ukraine
Washington spricht wegen Russlands Militäraktionen von einem „aggressiven Vorgehen“. Kiew sieht eine „bedrohliche Atmosphäre“ – und die Nato warnt.
Die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine haben sich in den vergangenen Tagen weiter verschärft – trotz des im Juli vergangenen Jahres ausgehandelten neuen, allerdings fragilen Waffenstillstands wächst die Sorge vor einer neuen Eskalation. Nachdem die Regierung von Russland Präsident Wladimir Putin Bewegungen seiner Truppen an der Grenze zur Ostukraine bestätigt hatte, zeigt sich die Regierung des neuen US-Präsidenten Joe Biden nun höchst alarmiert. Die "Bild"-Zeitung berichtet unter Berufung auf Videos, Moskau verlege seit Tagen nicht nur nicht nur Angriffswaffen, sondern auch die Logistik für einen groß angelegten Feldzug in Richtung Ukraine.
Washington sei besorgt "wegen der jüngsten Eskalation des aggressiven und provokativen Vorgehens Russlands im Osten der Ukraine", sagte US-Außenamtssprecher Ned Price am Donnerstag. Er warnte Moskau vor Versuchen, "unseren Partner Ukraine einzuschüchtern oder zu bedrohen", berichtet die Nachrichtenagentur AFP.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Bei einem Telefonat versicherte Biden seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj, dass er auf die „unerschütterliche Unterstützung“ Amerikas für die Souveränität des Landes zählen könne. Das Weiße Haus warf Russland „anhaltende Aggression“ im Donbass und auf der Krim vor. Biden habe Selenskyj darüber hinaus Unterstützung bei dessen Anstrengungen zugesagt, die Korruption zu bekämpfen und Reformen umzusetzen. Thema sei auch die Eindämmung der Corona-Pandemie gewesen.
Selenskyj verlieh in Kiew seiner Freude über das Gespräch Ausdruck. „Wir stehen Schulter an Schulter, wenn wir unsere Demokratien bewahren müssen“, schrieb er beim Kurznachrichtendienst Twitter.
Die US-Armee in Europa erhöhte einem Bericht der "New York Times" (NYT) zufolge ihre Bedrohungseinschätzung in der Region sogar auf die höchste Stufe – von "mögliche Krise" auf "potenziell bevorstehende Krise". Am Mittwochabend rief der Generalstabschef der Vereinigten Staaten, Mark Milley, zudem seinen russischen Amtskollegen Waleri Gerassimow an, um ihm mitzuteilen, dass die USA die russischen Truppenverlegungen in Richtung Ukraine mit Sorge beobachteten.
Russland verstärkt Truppen an drei Orten
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin telefonierte nach Angaben Kiews mit seinem ukrainischen Kollegen Andrej Taran. Austin habe versichert, das Washington die Ukraine "im Falle einer eskalierenden russischen Aggression" nicht alleine lasse, teilte das ukrainische Verteidigungsminister mit. Ein Nato-Vertreter sagte der Nachrichtenagentur Reuters, Russland untergrabe die Friedensbemühungen in der Ostukraine. Die Bündnismitglieder seien besorgt über "Russlands jüngsten, groß angelegten Militäraktivitäten in und um der Ukraine".
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hatte zuvor erklärt, dass Russland seine Truppenpräsenz an der Grenze zur Ukraine verstärkt habe. Moskau wolle dadurch eine "bedrohliche Atmosphäre" schaffen. Der ukrainische Militärgeheimdienst warf der russischen Armee vor, sie wolle ihre Präsenz in den von den Rebellen kontrollierten Regionen Donezk und Luhansk ausweiten. Das ukrainische Militär hatte in den vergangenen Tagen von drei Orten gesprochen, an denen Russland offenbar seine Truppen verstärke.
Bisher 13.000 Tote um Ukrainekrieg
Russland und die Ukraine sind seit 2014 in einem nicht-offiziellen Kriegszustand. Damals annektierte Russland zuerst die ukrainische Halbinsel Krim und trat dann einen Krieg im Osten der Ukraine los, dem sogenannten Donbass. Insgesamt starben in dem Konflikt bisher 13.000 Menschen. Ein 2015 mit deutsch-französischer Vermittlung vereinbarter Friedensplan wurde nur in Ansätzen umgesetzt.
Nach ukrainischen Angaben wurden seit Beginn des Jahres bei Angriffen prorussischer Rebellen bereits 20 Soldaten getötet und 57 weitere verletzt. Russland weist den Vorwurf zurück, es unterstütze die Rebellen militärisch. Im Juli vergangenen Jahres hatten sich die Konfliktparteien auf einen neuen Waffenstillstand geeinigt. Seit Mitte Februar gibt es aber verstärkte Kampfhandlungen.
Russland spricht von Selbstschutz
Russland bezeichnet die jüngsten Truppenbewegungen nahe der Grenze zur Ukraine als Maßnahme zum Selbstschutz. "An den russischen Grenzen nehmen die Aktivitäten der Nato, anderer Bündnisse und einzelner Staaten zu", sagte ein Präsidialamtssprecher am Donnerstag, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. "Das alles verpflichtet uns, wachsam zu sein", sagte der Sprecher demnach.
Außenminister Sergej Lawrow warnte dem Bericht zufolge, eine Eskalation in der Donbass-Region könne die Ukraine zerstören. Entsprechende frühere Bemerkungen von Präsident Putin träfen immer noch zu, erklärte er. Am Dienstag bestätigte der Sprecher des Kremls, Dmitri S. Peskow, dem Bericht der NYT zufolge die jüngste Zunahme der Kämpfe und sagte, Russland "hoffe aufrichtig", dass sie nicht eskalieren würden. Die Kämpfe, sagte er, "machen die bescheidenen Errungenschaften, die früher gemacht wurden, zunichte".
Der ukrainische Generalstabschef Ruslan Khomchak hatte am Mittwochabend vor dem ukrainischen Parlament gewarnt, Russland habe 28 Bataillonsgruppen an die ukrainische Grenze und auf die Krim verlegt und könnte binnen Tagen angreifen. Am Donnerstag kündigte er zudem an, die Ukraine bereite sich auf die Einberufung von Reservisten in die Armee vor, wenn Russland seine Truppenkonzentration fortsetzte. Khomchak sprach von "einer Gefahr für die nationale Sicherheit".
Am Dienstag hatte das Parlament in Kiew eine Erklärung verabschiedet, in der es eine "Eskalation" entlang der Front feststellte und im Wesentlichen anerkannte, dass der im Juli ausgehandelte Waffenstillstand gebrochen war. Das Parlament verwies der NYT zufolge auf eine "signifikante Zunahme des Beschusses und bewaffneter Provokationen durch die Streitkräfte der Russischen Föderation".
Kiew fordert mehr Druck auf Putin
Die Erklärung forderte die westlichen Regierungen auf, "den internationalen politischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland fortzusetzen und zu erhöhen", etwas, was die Ukraine schon seit Jahren fordert. Die USA und die europäischen Verbündeten haben Finanzsanktionen gegen Russland verhängt, die sich gegen den inneren Kreis von Präsident Putin, Banken und Ölgesellschaften richten.
Am Dienstag hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Emmanuel Macron mit Putin im Rahmen einer Videokonferenz zur Corona-Pandemie auch über den Konflikt in der Ostukraine gesprochen. Die Kanzlerin und der französische Präsident riefen demnach dazu auf, die Verhandlungen zur Umsetzung der Minsker Friedensabkommen im sogenannten Normandie-Format unter Beteiligung der Ukraine voranzutreiben. Eigentlich hatte die Minsker Gruppe vereinbart, keine Gespräche mit Russland über die Ukraine ohne die Beteiligung Kiews zu führen.
Die Bezeichnung Normandie-Format geht zurück auf ein erstes Treffen dieser Art 2014 in der französischen Region Normandie. Der 2015 vereinbarte Minsker Friedensplan wurde bisher nur in Teilen umgesetzt. Neben dem brüchigen Waffenstillstand ikommt auch die Entmilitarisierung des Konfliktgebiets nicht voran. Vereinbarungen zu Wahlen und einer geplanten Autonomie der abtrünnigen Gebiete wurden bislang ebenfalls nicht umgesetzt.
Wie die "Bild" unter Berufung auf russische Quellen schreibt, verlege Putin neben Panzern, Schützenpanzern und Artillerie-Geschützen auch Brückenbau-Material, Kommunikationsanlagen und Militärkrankenwagen. Dies gehe aus einer Analyse von mehr als 25 Videos russischer Passanten hervor, die die russische Untersuchungsplattform "Conflict Intelligence Team" ausgewertet habe. Dabei nutze Putins Armee nicht nur Straßen, sondern auch Züge, um seine Armee in Richtung Ukraine zu verlegen.
Unter Berufung auf die die russische Zeitung "Kommersant" schreibt das deutsche Blatt weiter, es seien so viele Züge unterwegs, dass sich das russische Landwirtschaftsministerium beschwert habe, es bleibe kein einziger Schwertransport-Waggon übrig, um Traktoren in die Erntegebiete zu bringen. Zwei Quellen berichteten "Kommersant" demnach, dass die Mehrzahl der rund 16.000 Bahnwaggons im Land "derzeit für den Transport von Militär- und Spezialfracht verwendet werden". Die "Bild" veröffentlichte dazu mehrere Fotos von privaten Quellen, die die Truppenbewegungen belegen sollen.
Wie "Bild" weiter schreibt, habe das Auswärtige Amt auf Anfrage geantwortet: "Russland und Ukraine haben in den vergangenen Tagen öffentlich vor Truppenbewegungen der jeweils anderen Seite gewarnt. Vor dem Hintergrund der Lage in der Ostukraine stehen wir gemeinsam mit unseren Partnern in engem Austausch mit Kiew und Moskau, damit kein Raum für Missverständnisse entsteht, die wiederum zu weiteren Eskalationen führen könnten."