Finnland will in die Nato: Putin stärkt seine Gegner
Jahrzehntelang war Finnland das weltweite Modell für einen neutralen Staat. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine führte zum Umdenken. Ein Kommentar.
Völlig unerwartet kommt sie nicht, die finnische Entscheidung für die Nato. Aber auch ohne Überraschungseffekt bedeutet sie einen weltpolitischen Einschnitt. Jahrzehntelang galt das Land in Skandinavien mit seiner strikten Neutralität als ein Modell, wie man zwischen antagonistischen Blöcken seine Sicherheit am besten dadurch schützt, dass man sich weder auf die eine oder andere Seite schlägt, sondern in militärischen Fragen seinen eigenen, unabhängigen Kurs fährt. Das Abseits als sicherer Ort gewissermaßen.
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Auch vor Russlands Angriff auf die Ukraine empfahlen manche dem von Kiew regierten Land im Osten Europas eine „Finnlandisierung“ – und mache empfahlen diesen Schritt sogar noch, als Russlands Militär schon ukrainische Städte dem Erdboden gleichmachte und Zivilisten von Fahrrädern schoss, um Terror zu verbreiten. Doch vom Modell Finnland als neutralem Staat, dem andere Länder folgen sollen, muss sich die Welt seit Donnerstag verabschieden.
Denn Finnland zieht die Konsequenz daraus, dass es anders als im Kalten Krieg nicht mehr zwischen zwei Blöcken steht, die den Status quo verteidigen. Mit Russland lauert heute auf der einen Seite ein Akteur, der mehrfach andere Länder überfallen hat und mit aggressiver Rhetorik noch mehr beansprucht.
Auf der anderen Seite steht mit der Nato ein kollektives Sicherheitssystem, das unterhalb der Schwelle des Kriegseintritts ziemlich viel tut, um die Existenz der Ukraine im Kampf mit Russland zu sichern. Dieses Bündnis hat zudem seine Mitglieder im Osten Europas, etwa das Baltikum, Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien, durch das Versprechen des Beistands im Falle eines Angriffs (Artikel 5) zumindest bislang effektiv geschützt.
Der Traum Wladimir Putins von der Wiederherstellung eines russischen Großreichs ist für die 5,5 Millionen Finnen besonders gefährlich, weil ihr Land bis 1917 dem russischen Zarenreich angehörte. Auf der anderen Seite steht das finnische Selbstbewusstsein, sich im Winterkrieg von 1939/40 gegen die sowjetische Übermacht behauptet zu haben.
Die Entscheidung für die Nato nun birgt ebenfalls Risiken: Auch wenn alle Nato-Mitgliedern gewillt scheinen, Finnland willkommen zu heißen, wird es Monate dauern, bis ein entsprechendes Beitrittsdokument in allen Hauptstädten ratifiziert ist. Bis dahin steht Helsinki nicht unter dem Schutz von Artikel 5, der jedem angegriffenen Mitglied den Beistand aller garantiert.
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Das ist aber aus mehreren Gründen kein Grund zur Panik: Ein russisches Militär, das seine Ziele in der Ukraine nicht erreicht und furchtbare Verluste hinnehmen muss, scheint kaum in der Lage, einen großen Angriff über die 1300 Kilometer lange Grenze zu Finnland zu führen.
Finnische Vertreter nehmen zudem jetzt schon an Nato-Beratungen teil, finnisches Militär kommuniziert und übt jetzt schon mit Nato-Verbänden. Es sind nicht zwei völlig verschiedene Welten, die da zusammenkommen sollen.
Russische Drohungen werden folgen. Wladimir Putins Propaganda wird behaupten, Finnland und die Nato würden sich zu einer neuen Bedrohung Russlands verbünden. Das gilt erst recht, wenn Schweden den gleichen Weg geht, wofür viel spricht.
Das Gegenteil ist richtig: Finnland und wahrscheinlich Schweden reagieren auf die Gewalt, die von Russland ausgeht. Sie treffen die richtige Entscheidung. Wladimir Putin will es nicht einsehen: Er macht seine Gegner umso größer, er schweißt sie umso stärker zusammen, je länger und grausamer er Krieg führt.