Kasachstans Autokraten-Ablöse: Präsident Tokajew nutzte die Unruhen, um seinen Vorgänger zu entmachten
Was der kasachische Präsident als ausländischen Umsturzversuch bezeichnet, mutet eher wie ein Staatsstreich von oben an. Eine Analyse.
Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew scheint sich sicher, dass er seine Macht gerettet hat. So sicher, dass er sich am Mittwoch nach Almaty wagte, wie die lokalen Medien berichten.
Die Millionenstadt im Süden des Landes war in den vergangenen Tagen das Zentrum der Unruhen und einer Welle der Gewalt. Es gab Tote und Verletzte, administrative Gebäude wie die Präsidentenresidenz gingen in Flammen auf. Der Einsatz ausländischer Truppen konzentrierte sich in und um die Stadt. Rund 2000 Menschen waren allein hier verhaftet worden.
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Tokajew beharrt darauf, er habe den Angriff Tausender Terroristen zurückgeschlagen, die aus dem Ausland eingeschleust oder von dort gesteuert worden seien. Doch Zweifel an dieser Version halten sich hartnäckig, auch weil der Präsident keine Beweise vorlegt. Ein angeblicher „Terrorist“ erwies sich als Jazz-Musiker aus Kirgistan. Bei seinem „Geständnis“ war nachgeholfen worden, zeigten notdürftig überdeckte Hämatome in seinem Gesicht.
Haarsträubend klingt auch Tokajews Erklärung, die Putschisten hätten Leichenschauhäuser überfallen, um die Körper der Getöteten zu stehlen und so Beweise verschwinden zu lassen.
Die Version von einer „äußeren Bedrohung war so bequem, dass sich praktisch alle Partner Kasachstans beeilten, sie zu übernehmen“, schrieb der Kommentator der Wirtschaftszeitung „Kommersant“ am Mittwoch. Diese Version war auch notwendig, denn der von Russland geführte Beistandspakt zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken verbietet Interventionen bei inneren Unruhen.
Russlands Präsident Wladimir Putin wittert zudem immer eine vom Westen gelenkte „Farbenrevolution“, wenn die Macht eines Autokraten in seiner Nachbarschaft wankt. Dass sich die Ereignisse am Ende gegen den früheren Präsidenten Nur-Sultan Nasarbajew, seinen alten Weggefährten, wenden würden, mag er nicht geahnt haben.
Russische Medien verbreiteten Verschwörungstheorien
Als sich die Lage in Kasachstan trotz Zugeständnissen und dem Rücktritt der Regierung nicht beruhigen wollte, wurden Szenarien ausländischer Einmischung rasch von offiziellen kasachischen Stellen kolportiert, und kremlnahe russische Medien griffen sie auf. Sie verwiesen darauf, dass Kasachstan reich an Öl, Gas und vor allem auch Uran sei. Was Theorien über dunkle Machenschaften fremder Mächte auf den ersten Blick zumindest plausibel erscheinen ließ.
Doch die Fragen blieben. Die größten Abnehmer von kasachischem Öl und Gas sind westliche Staaten, allen voran Italien. Nach einer Analyse der Moskauer Abteilung der Carnegie-Stiftung sind elf der 13 Unternehmen zur Förderung und Verarbeitung von Uran im Besitz multinationaler, mithin westlicher Konzerne. Warum sollten diese ihre sicheren Profite durch Massenunruhen mit unabsehbaren Folgen riskieren?
Deshalb geraten zunehmend die inneren Konflikte in dem zentralasiatischen Land in den Blick. Die hatte Nasarbajew durch sein Szenario der Machtübergabe vor drei Jahren heraufbeschworen. Nach einem Auswahlprozess präsentierte der damals 78-jährige Nasarbajew den auch nicht mehr jungen Kassym-Schomart Tokajew als seinen Erben. Der Karrierediplomat hatte einen großen Teil seines Berufslebens im Ausland verbracht, verfügte also mutmaßlich über keine Hausmacht in Kasachstan, die Nasarbajew gefährlich werden konnte. Der behielt zudem auch formelle und informelle Hebel der Macht in seinen greisen Händen.
Eine Doppelherrschaft war installiert, in der Nasarbajew die Nummer eins, Tokajew klar die Nummer zwei war. So sah das offensichtlich auch Russlands Präsident Wladimir Putin noch vor wenigen Tagen. Als sich Ende Dezember die Führer ehemaliger Sowjetrepubliken in St. Petersburg trafen, empfing Putin Nasarbajew zur persönlichen Audienz – und vertröstete Tokajew auf einen Termin später im Januar.
Tokajew hat nun in nur ein paar Tagen alle Elemente der Doppelherrschaft beseitigt und die ganze Macht in seiner Person vereint. Was der Präsident als ausländischen Putschversuch bezeichnet, mutet so bei genauerer Betrachtung an wie ein Staatsstreich von oben gegen seinen Vorgänger. Das sagt nicht, dass Tokajew die Unruhen organisiert hat. Aber er nutzte die Chance, die sich aus ihnen ergab, kaltblütig und konsequent. Tokajew setzte Nasarbajew als Chef des Sicherheitsrates ab und sich selbst an die Spitze.
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Nasarbajew ist verschwunden, so wie auch dessen mächtige Tochter Darigha, die vorübergehend als „Kronprinzessin“ galt. Sie erschien am Mittwoch nicht zur Parlamentssitzung, aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß. Es gibt eine neue Regierung und neue Leute in Schlüsselpositionen des Sicherheitsapparates. Zuvor war von Ermittlungen gegen hohe Polizei- und Geheimdienstoffiziere und von mindestens einem plötzlichen Todesfall die Rede.
Nun will Tokajew die Geister, die er rief, schnell wieder loswerden. Die russischen Truppen sollen Kasachstan binnen Tagen verlassen. Auch diese Eile spricht gegen die Version von Tausenden ausländischen Putschisten und dafür, dass sich Tokajew der vollen Macht sicher wähnt. Der kasachische Präsident hofft offenbar darauf, dass dem mächtigen Nachbarn Putin durch den Ukraine-Konflikt die Hände gebunden sind und er froh ist, dass der Einsatz in Kasachstan so schnell vorbei ist.