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Der EU-Gipfel mit Kanzlerin Merkel, die sich in häuslicher Quarantäne befindet, fand per Videoschalte statt.
© dpa/Ian Langsdon

Politik im Homeoffice: Präsent sein, heißt Macht ausüben

Im Zeitalter der Digitalisierung scheint die Pflicht zur körperlichen Anwesenheit fast archaisch. Aber Präsenz ist der Kern der Repräsentation. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Es war eine Woche mit einem proppenvollen politischen Kalender, mit einer Sitzungswoche des Bundestages und einem EU-Gipfel. Und doch herrschte Leere in den Hallen der Deliberation. Der EU-Gipfel fand als „Viko“ statt - in Form einer Videokonferenz.

Die Staats- und Regierungschefs, in Amtszimmern vor Flaggen platziert, sahen sich nur auf Bildschirmen. Die Kanzlerin, noch immer in Quarantäne, nahm per Videoschalte auch an der Kabinettssitzung teil. Die Bundestagsverwaltung hatte verfügt, dass zwischen je zwei Abgeordneten zwei Stühle frei sein sollten.

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Die Rednerpulte wurden nach jedem Wortbeitrag desinfiziert. Die Abstimmung fand an Urnen im Foyer statt. Kollegen berichten, dass Abstandsmarkierungen auf den Fußboden geklebt waren. Alles funktionierte – und wirkte dennoch entseelt.

Im Zeitalter der Digitalisierung scheint die Pflicht zur körperlichen Anwesenheit fast archaisch. Und doch spielt sie für das Politische immer eine wichtige Rolle, das hat diese Woche gezeigt. Präsenz zu zeigen, heißt Macht auszuüben. Präsenz ist der Kern der Repräsentation. Präsenz heißt, verantwortlich gehalten werden zu können. Und Präsenz ist wichtig für die Rituale, die Demokratie erfahrbar machen und so bekräftigen.

Mittelalterliche Könige übten Macht durch Lehnsbeziehungen, aber auch durch persönliche Anwesenheit aus. Sie reisten von Pfalz zu Pfalz, um sich zu zeigen. Bis heute hat persönliche Anwesenheit etwas Zwingendes: Der Anwesende kann nicht leiser gestellt oder abgeschaltet werden. Man konfrontiert die Welt mit dem Fakt der eigenen Existenz. Anwesenheit erzwingt Beachtung.

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Olaf Scholz war so blass wie immer – aber anwesend

Anstelle von Angela Merkel hielt Olaf Scholz am Mittwoch die Regierungserklärung im Bundestag. Das Virus scheint Scholz’ Haushaltspolitik zu bestätigen – auch gegen Angriffe aus der eigenen Partei. Nun stand er, der vielleicht doch noch auf die Kanzlerschaft hofft, an der Stelle der Kanzlerin. Er trug seine von Pathos durchsetzte Krisenrede („Herausforderung für die Menschheit“) zwar so blass und scholzesk vor wie eh und je. Aber er war da und erzwang so Beachtung.

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Noch bedeutender ist Präsenz für die Repräsentation. Das Abgeordnetendasein beruht ja darauf, an Stelle anderer, der Wähler, am Ort der Abstimmung zu sein. Die deutsche Demokratie sieht vor, dass die Abgeordneten abwechselnd in ihren Wahlkreisen und in Berlin präsent sind – als wandelnde Briefkästen für die Belange der Menschen.

Zeigt Präsenz: Olaf Scholz am Freitag im Bundestag.
Zeigt Präsenz: Olaf Scholz am Freitag im Bundestag.
© REUTERS

Diese Art des Für-andere-da-Seins ist derzeit nur sehr eingeschränkt möglich. Natürlich können Abgeordnete Informationen digital entgegennehmen und in den demokratischen Prozess einspeisen. Doch das schließt zu viele aus, die etwas loswerden möchten – technisch, bildungstechnisch oder aus Zeitgründen.

Wer nicht da ist, kann auch nicht zur Verantwortung gezogen werden

Wer nicht da ist, kann im Übrigen auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Persönlich gestellte Fragen entwickeln eine andere Dringlichkeit und Unausweichbarkeit. Die aktuelle Stunde und die Befragung der Regierung im Bundestag aber entfielen.

Pressekonferenzen werden gestreamt. Lothar Wieler, der Chef des RKI und gerade eine der wichtigsten Personen im Land, muss keine direkten Fragen beantworten. Die Freitagspressekonferenz ließ er nun ganz ausfallen.

Schließlich lebt Demokratie vom Ritual der Beteiligung, des Wählens. Indem man zur Wahlurne geht, inszeniert man ansonsten abstrakte Rechte in der physischen Welt; das ist ein bekräftigender Akt. Wegen der Coronakrise hat Bayern sich allerdings entschlossen, die Stichwahlen zur Kommunalwahl an diesem Sonntag als reine Briefwahl abzuhalten.

Bei der Sitzung des Bundestages an diesem Mittwoch sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: „Die parlamentarische Demokratie wird nicht außer Kraft gesetzt.“ Olaf Scholz sagte: „Am Ende kann es ein Gewinn für die Demokratie und den demokratischen Staat sein, wenn er zeigt, dass er mit dieser Situation umgehen und sie bewältigen kann.“ Das stimmt schon. Die Demokratie funktioniert. Lebendig ist sie nicht.

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