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Wahr oder falsch: Auch die Kinderbuchfigur Pinocchio nahm es mit der Wahrheit nicht so genau.
© Getty Images/iStockphoto

Das Wort des Jahres: „Postfaktisch“: Was wahr ist, bestimmen wir

Emotionen ersetzen Realität, Gerüchte fluten das Internet. Und Algorithmen entscheiden über die Wahrheit. Eine Analyse.

Das Wort verschleiert mehr, als es erhellt. „Postfaktisch“ – das steht in einer Reihe mit postmodern, postsowjetisch, postmateriell. Es suggeriert, ein Zustand sei überwunden, eine neue Stufe erreicht, ein alter Zopf abgeschnitten worden. Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“, die „postfaktisch“ am Freitag zum Wort des Jahres kürte, begründet ihre Entscheidung so: Das Kunstwort verweise darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten gehe. Aber ist eine gefühlte Wirklichkeit nicht ebenfalls irgendwie real, wie Liebe, Trauer, Angst und Wut?

Das Wort enthält mehr, als es scheint. Denn „postfaktisch“ weist auch auf eine Erosion des Wirklichkeitssinnes hin. Die Wahrheit? Wer kennt die schon! Ist doch sowieso alles subjektiv. Die einen glauben an Gott, die anderen an Spaghettimonster.

Und leben wir nicht in Zeiten, in denen sich das Unwahrscheinliche ständig als sehr real erweist? Dass 19 Terroristen vier Passagierflugzeuge entführen und beide Türme des World Trade Centers zum Einsturz bringen? Dass ein amerikanischer Präsident die Welt belügt, um im Irak Krieg zu führen? Dass das globale Finanzsystem zusammenkracht und Banken mit Steuergeldern gerettet werden müssen, weil sie „too big to fail“ sind – zu groß, um bankrottgehen zu dürfen? Dass eine europäische Gemeinschaftswährung ins Trudeln gerät, von der es hieß, sie sei mindestens so hart wie die D-Mark? Dass Geheimdienste ein Überwachungssystem aufbauen, vor dessen Zugriff niemand sicher ist? Wer weiß: Vielleicht ist die Lüge von heute die Wahrheit von morgen.

Das Wort drückt eine Haltung aus

Dem Wort fehlt die Klarheit. „Postfaktisch“ heißt übersetzt nichts anderes als „falsch“. Die Meldung stimmt nicht, die Nachricht ist eine Ente, das Gerücht entbehrt jeder Grundlage, die These kann nicht belegt werden. Es gibt einen Unterschied zwischen wahr und falsch wie zwischen Tag und Nacht. Es mag Grauzonen der Ungewissheit geben, aber auch Sonnenaufgang und Dämmerung sind solche Grauzonen – und trotzdem widerlegen sie nicht Tag und Nacht.

Das Wort drückt eine Haltung aus: Was wahr ist, bestimmen wir. Donald Trump hat im Präsidentschaftswahlkampf Dinge behauptet, die nachweislich falsch sind: dass die Kriminalität steigt, Hillary Clinton alle Gefängnisinsassen entlassen will. Doch das schadete ihm nicht. Seine Anhänger werteten jede Entlarvung einer Trump-Lüge durch die Ost- und Westküstenmedien, wo ja überwiegend demokratisch gewählt wird, als Beleg für die These, diese Medien seien parteiisch. Die Aufdecker werden zu einem Teil des „korrupten Systems“ erklärt.

Ein Geschäft mit böswilligen Falschmeldungen

„Postfaktisch“ ist ein Geschäft. Vor drei Wochen veröffentlichte die „Washington Post“ ein Interview mit Paul Horner. Der 38-jährige Mann lebt davon, über Facebook Falschnachrichten zu verbreiten. Eine davon war eine Geschichte über jemanden, der für seine Teilnahme an einer Anti-Trump-Demonstration 3500 Dollar bekommen haben sollte. Je mehr Menschen solche Geschichten lesen, desto größer sind die Werbeeinnahmen für Horner, im Durchschnitt rund 10 000 Dollar im Monat. Horner hasst Trump, seine Meldungen begreift er als Parodie oder Satire. Und er war überrascht, wie viele Trump-Sympathisanten sie für wahr hielten.

In Amerika beginnt nun das „soul searching“: Die Chefs von Google und Facebook haben angekündigt, Fake- News-Seiten künftig nicht mehr von ihren Werbeeinnahmen profitieren zu lassen. „Papst Franziskus unterstützt Trump“, hieß es auf einer, oder: „Hillary hat Waffen an den IS verkauft“. Clinton selbst warnt vor der „Epidemie böswilliger Falschmeldungen und falscher Propaganda“, die mithilfe sozialer Netzwerke das Internet überfluten. Diese könnten „Konsequenzen in der realen Welt“ haben.

Das tun sie. Am vergangenen Sonntag fuhr ein junger Mann aus North Carolina nach Washington D.C., betrat mit einem Sturmgewehr des Typs AR-15 die Pizzeria „Comet Ping Pong“, schoss auf das Schloss einer Tür und auf einen Computer. Im Internet hatte er gelesen, die Pizzeria diene Clinton und ihrem Wahlkampfmanager John Podesta als geheime Zentrale für einen Pädophilenring, im Keller missbrauche man Kinder als Sexsklaven. Diese Kinder wollte der Mann befreien.

Auf Facebook spielt wahr oder falsch keine Rolle

In der postfaktischen Welt wird das für wahr gehalten, worüber viele Menschen reden. Facebook etwa mit seinen weltweit rund 1,7 Milliarden Nutzern jeden Monat versteht sich nicht als Medienunternehmen, sondern als eine Technologiefirma. Ein Algorithmus wertet die Datenmengen aus und sortiert sie nach Trends. Ob wahr oder falsch, spielt keine Rolle, Hauptsache viel „traffic“, ein hohes Leseaufkommen, lange Verweildauer. Das ist das Geschäftsmodell. Ungefähr zwei Drittel aller Amerikaner beziehen ihre Nachrichten inzwischen von sozialen Diensten, Tendenz stark steigend.

„Postfaktisch“ – das heißt zuletzt: Es muss eine Gemeinschaft derjenigen geben, die sich weiterhin der Realität verpflichtet fühlen. Die bereit sind, Fehler zu korrigieren, die ihre Quellen transparent machen. Falls nicht, würde eintreten, wovor das Wort warnt.

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