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Die Anhänger von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump stört es nicht, dass ein großer Teil seiner Behauptungen sich später als unwahr herausstellt.
© AFP

Das postfaktische Zeitalter: Lügen als Mittel der Politik

Ob in Donald Trumps Wahlkampf, bei der Brexit-Kampagne oder Russlands Krieg in der Ukraine: Das Aufweichen der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge wird zum Mittel der Politik.

Donald Trump lügt oft. Faktenchecker in den USA haben ermittelt, dass 70 Prozent seiner Aussagen entweder weitgehend falsch, falsch oder komplett gelogen waren. So behauptet der US-Präsidentschaftskandidat, die Kriminalität in den Innenstädten der USA habe ein Rekordniveau erreicht. In Wirklichkeit sinkt die Verbrechensrate seit Jahren. Eigentlich dürfte jemand, der so oft und so offen lügt, in einem Wahlkampf um das Amt des mächtigsten Mannes der Welt keine Chancen haben. Doch dass Trump ständig Lügen nachgewiesen werden, schadet ihm nicht, im Gegenteil. Er pflegt das Image des Enfant terrible, das es „denen in Washington“ zeigt.

Wer noch immer nicht glaubt, dass man Wähler belügen und trotzdem oder gerade deswegen gewinnen kann, muss nur nach Großbritannien blicken. Für den Brexit warben Boris Johnson und seine Weggefährten mit Behauptungen, an deren Gehalt sie wohl nicht glaubten. Von ihrem Sieg war niemand so überrascht wie sie selbst. Erst am Tag nach dem Referendum dämmerte es einer Mehrheit der Wähler, dass mit einem Austritt Großbritanniens aus der EU keineswegs riesige Summen ins Gesundheitssystem fließen würden. Bis dahin hatten sie denjenigen, die nachrechneten und die Zahlen als falsch entlarvten, keinen Glauben geschenkt.

In den USA ist von „post-truth politics“ die Rede

Für das Phänomen, dass Wahrheit und Fakten in der Politik nicht mehr zu zählen scheinen, gibt es längst ein neues Schlagwort: In den USA ist von „post-truth politics“ die Rede, in Deutschland vom „postfaktischen Zeitalter“. Selbst die Kanzlerin griff dieses Modewort kürzlich auf.

Das Aufweichen der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge als Mittel der Politik hat weder mit der Brexit-Kampagne noch mit Trump begonnen. Seit mehr als zwei Jahren hat Russland dieses Prinzip perfektioniert. Dass die Soldaten ohne Hoheitszeichen, die strategisch wichtige Punkte der Krim besetzten, zur russischen Armee gehörten, wurde so lange geleugnet, bis die Annexion der Halbinsel beschlossene Sache war. Der Kreml bestreitet bis heute, dass russische Truppen in der Ostukraine kämpfen.

Nach dem Abschuss von Flug MH17 präsentierte Moskau verschiedene Versionen, die einander ausschließen. Und als in Syrien ein UN-Hilfskonvoi aus der Luft bombardiert wurde, behauptete Russland zunächst, die Lastwagen seien ganz von selbst in Brand geraten.

Seit zweieinhalb Jahren zeigt sich die internationale Gemeinschaft hilflos angesichts dieses Vorgehens, das die Existenz beweisbarer Fakten negiert. So hat weder die Bundesregierung noch der US-Präsident Russland offen aufgefordert, seine Soldaten aus der Ukraine abzuziehen.

Begriff des "Postfaktischen" ist irreführend

Bisher herrscht Ratlosigkeit darüber, wie denen zu begegnen ist, die uns glauben machen wollen, dass im Orwell’schen Sinne Krieg Frieden sei, Freiheit Sklaverei und Unwissenheit Stärke. Es ist kein Zufall, dass sich in vielen Ländern Europas diejenigen dieses Prinzip zu eigen machen, die das Modell der liberalen Demokratie ablehnen oder verachten. Doch wer leichtfertig vom „postfaktischen Zeitalter“ spricht, akzeptiert damit, dass Fakten ausgedient haben, dass Gefühle und Stimmungen mehr zählen als das, was sich beweisen lässt. Das ist so irreführend wie gefährlich. Denn auf diesem Gebiet lassen sich die Populisten nicht überholen.

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