Das "postfaktische" Zeitalter: Jeder macht sich seine eigene Welt
Ich fühle, also weiß ich? Angst ist der Stoff, aus dem der postfaktische Wahn sich nährt. Emotionen heißt es, seien die neuen Fakten. Ach, wirklich? Ein Essay.
Auf der Insel Usedom gibt es kaum Asylbewerber, kaum Ausländer. Der Anteil an Einwohnern, die nicht aus Deutschland stammen, liegt bei drei Prozent. Viele sind qualifizierte gastronomische oder medizinische Mitarbeiter des Kurbetriebs. Es gibt ein chinesisches Restaurant, ein mexikanisches, ein griechisches, ein italienisches. Weder belegen Asylsuchende im Sommer die Strandkörbe, noch schlagen sie Zelte zwischen Wohnwagen oder Villen auf. Auf Usedom boomt der Tourismus, fast jeder hat Arbeit. Trotzdem fürchten sich die Insulaner vor „Überfremdung“ und dem Ausverkauf des Abendlands. Im September zu Landtagswahlen aufgerufen, bescherte ihr Katzenjammer der AfD den Löwenanteil der Stimmen: 35,3 Prozent. „Asylchaos beenden!“ hatten Plakate gefordert, „Kein Geld für Eure ,Flüchtlinge’!“ und „Grenzen sichern!“. Halluzinierten die Bewohner am Horizont der Ostsee Schiffsladungen voller Fremdlinge? Wie die Schlafwandler scheint es die Usedomer zu den Urnen gezogen zu haben. Wider besseres Wissen: Sie wissen es besser.
Amtliche Zahlen, offizielle Statistiken, messbarer Lebensstandard? Ganz gleich. Gefühlte Fremde ist gefühlte Gefahr – und ist wahr. Wir machen unsere Fakten selber, und wer anderes sagt, zählt zur „Lügenpresse“ und deren Lesern. Mit „postfaktisch“ ist inzwischen oft gemeint, dass ein Teil der Wahrheit in manipulativer Absicht weggelassen wird. Die Vokabel ist eine Chiffre geworden für salonfähige Verschwörungstheorien.
Auf einer größeren, einflussreicheren Insel als Usedom hatte der Heizer der Brexit-Eisenbahn, Boris Johnson, den Kessel mit fiktivem Brennstoff befeuert. Sein Zug raste, den Fakten trotzend, aus der EU heraus. Man müsse nur die „Gesetzesflut“ der EU hinter sich lassen, tönte Johnson, und könne den gemeinsamen Markt behalten. Das stimmte nicht. Und viele andere Behauptungen ebenso wenig. Als dann das Brexit-Ja da war und das Entsetzen laut, lief Johnson hakenschlagend weg. Die Folgen des Faktenleugnens und Faktenbeugens könnten sich als härtere Fakten entpuppen. (Erst vor ein paar Tagen kam auch noch heraus, dass Johnson kurz vor seiner Kampagne noch gegen den Brexit gewesen war.)
Faktenferne, Datenresistenz, manipulatives Modifizieren des Gegebenen, das mutiert zum Leitmotiv vieler Zeitgenossen. Beim Shoppen im prallvollen Supermarkt der Gerüchte, Diffamierungen, Rassismen, Lügengespinste, Verzerrungen und Entstellungen, die als „Informationen“ verpackt in den Regalen vor allem des Internets zu finden sind, gilt die Anstrengung, sich rational Klarheit zu verschaffen mehr und mehr als Zumutung. Lieber greift man zu, oft von manipulierten Ängsten und Wünschen gesteuert.
Donald Trump verweigert sich dem "Faktencheck"
Amerikas Präsidentschaftskandidat Donald Trump wehrt sich gegen den „Faktencheck“ bei den großen Wahldebatten mit seiner Gegnerin Hillary Clinton, erfindet Massen von Syrern, die willkürlich ins Land geschwemmt würden, behauptet unbewiesen den Drogenkonsum von Hillary Clinton und dröhnt umso lauter, je mehr er von der Küste der Fakten wegrudert aufs Meer seines Ungefähristan. Zur Rede gestellt droht er damit, die Gegnerin ins Gefängnis zu stecken, sei er einmal an der Macht: „You will be in jail!“ Derlei Fakten schaffen, ganz real, üblicherweise ganz reale Despoten. Trump verliert zwar Anhänger, aber immer noch scheren sich Millionen nicht drum, was wahr ist, sondern scharen sich um den Scharlatan. Ihr Wunsch, dass seine Allmachtsfantasien wahr wären, lässt sie die Fakten vernachlässigen, verdrängen.
Erfundene Daten, konstruierte Behauptungen können auf dem rasenden Weg durch die Gassen und Gossen der Affekte eine Eigendynamik gewinnen, die nur schwer noch einzudämmen ist. Ressentiment ist der gängigste Name für das Resultat solcher Dynamik, bei der die Faktizität den Wettlauf mit der Fiktion verliert.
Faktum ist, wörtlich, das Gemachte. „Fare“ heißt „machen“, auf Lateinisch (und auf Italienisch), doch Faktum bedeutet auch: das Gegebene, das, was ist, messbar, konkret, empirisch nachweisbar. Sagen wir: Die Bevölkerungsgruppen mit drei Prozent und die mit 97 Prozent auf Usedom. Wie weit ist es von der Erde zum Mond? Wie lang ist der Amazonas? Wie viel wiegt der Fisch, den ich kaufe? Es gibt Standards, Maße, an denen sich unterscheiden und überprüfen lässt, was ist. Aus der Summe der Fakten entsteht, was Zeitgenossen durch ihr Vermögen, zu urteilen, seit der Aufklärung als objektive Realität anerkennen.
Launen werden bewirtschaftet, es geht um Hörensagen und Gerüchte
Fiktion kommt vom lateinischen Wort „fictio“, was so viel heißt wie Gestaltetes, Erdichtetes, Geformtes oder Erfundenes. Mythen, Sagen, Märchen, spirituelle Erzählungen sind Fiktionen, Romane, Spielfilme, Bühnendramen sind Werke der Fiktion. Für Fakten genommene Fiktionen sind Illusion. Als Fakten deklarierte Fiktion ist Lüge, wissentliche Devianz von den Standards des Objektiven, Propaganda, wie Demagogen à la Trump sie politisch nutzen.
Vom „postfaktischen Zeitalter“ sprach der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser im August in der „Neuen Zürcher Zeitung“. „An die Stelle des Faktums“, diagnostizierte er, „tritt das Faktoid“: „die Bewirtschaftung von Launen“. Bewirtschaftet mit „gefühlten Fakten“, wie es inzwischen, den Widerspruch auf die Spitze treibend, gerne heißt. „Gefühlte Fakten“ kommen zustande durch Hörensagen und Weiterverbreiten, durch das, was man wünscht oder fürchtet, also zufällig und projektiv oder absichtlich entstandene Inhalte.
So generierten Rassisten in den Garküchen der asozialen Netzwerke Gerüchte über Ausländer generell und Flüchtlinge im Besonderen. Sie würden tausende Euro im Monat vom Staat erhalten, weit mehr als deutsche Hartz-IV-Empfänger, sie würden deutschen Bauern Ziegen und Schafe stehlen und schächten, und vieles viel Schlimmeres. Strukturell erinnern sie an die Vorkriegs- und Kriegspropaganda von gewalttätigen Konflikten, die durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geschürt werden.
Wer Horrorgeschichten über andere erzählt, ist Mitschuld an dem, was dann passiert
Gelungen war das den Hetzakteuren im „Dritten Reich“, wo die knapp 500.000 friedlich unter den insgesamt 66 Millionen Deutschen im Land lebenden deutschen Juden als existenzielle Bedrohung der Mehrheit bezeichnet wurden. Groteske Gerüchte und Rassenkonstrukte sprengten die Rationalität. Fabriziert wurde Stoff, aus dem Albträume sind, irrationale, unzensierte Szenarien des Es, des Unbewussten. Auf einer psychoanalytischen Couch sind solche Phantasmen wertvolles Material gewesen, um verborgene Störungen zu deuten und dem Ich zugänglich zu machen. Doch sie beabsichtigen das Gegenteil. Nicht: Wo Es war, sollte Ich werden, wie Sigmund Freuds Formel lautet. Sondern wo Ich war, sollte es vom Es überwölbt werden. In jüngerer Zeit geschah Ähnliches im Vorfeld des Bosnienkriegs. Zu Beginn der 1990er Jahre streuten serbische Nationalisten unter anderem das Gerücht, bosnische Muslime hätten serbische Babys den wilden Tieren im Zoo von Sarajevo zum Fraß vorgeworfen. Wer solche horrenden Ängste verbreitet hatte, sagte vor dem Den Haager Strafgerichtshof der Zeuge Philippe Morillon, „der hatte die Schuld“ an dem, was folgte. Morillon war als französischer Fünf- Sterne-General von 1992 bis 1993 Befehlshaber der Uno-Blauhelme in Bosnien. Er wusste, wovon er sprach.
Das Erfinden von „Fakten“ ist seit der digitalen Revolution der Technik noch einfacher geworden und noch ubiquitärer Usus – beim anarchischen, verschwörungsaffinen Troll wie bei den staatlichen Propagandisten nicht demokratischer oder pseudodemokratischer Länder. Ungarns Staatschef Viktor Orbán generiert aus einer minimalen Anzahl Asylsuchender maximale Aufregung. Nicht nur etwa dem russischen Staatsfernsehen oder dem „Islamischen Staat“ dienen Videoclips mit beliebig kompilierten Gräuelbildern als Faktensurrogate, die Anhänger emotionalisieren und mobilisieren sollen.
Sind denn aber Emotionen nicht auch Fakten? Fakten mit enormer Wirkung? Gewiss. Zwischen Faktizität und Fiktion besteht eine „aporetische Spannung“, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann erklärt, es existiere, sagt sie, „kaum ein vageres, geläufigeres und umstritteneres Begriffspaar“. Jedes von Menschen produzierte Narrativ, Heiligenlegenden und Science- Fiction-Storys, aber auch Ideen wie die des Neoliberalismus oder der Demokratie, haben affektive Komponenten. Puristischer Positivismus, die Fixierung auf Faktizität, die nur das Messbare, Mathematische gelten lässt, wird der Grundlage der Kultur nicht gerecht. Denn es stimmt: Wir als Gattung konstruieren unsere Welt. Jeder von uns trifft darüber Entscheidungen, was er als Faktum anerkennt. Worauf es ankommt, ist, wie informiert, wie differenziert die Entscheidungen getroffen werden und welche Ziele, Pläne, Visionen sich daraus ableiten.
Angst ist der Stoff, aus dem der postfaktische Wahn sich nährt
Als Martin Luther King in seiner berühmten, mitreißenden Rede erklärte: „I have a dream!“, formulierte er einen Wunsch, der über die irrationale, kontrafaktische Wahnidee des Rassismus hinauswies in konstruktive Zukunft: Die Söhne von Sklaven sollten einmal friedlich um einen Tisch sitzen mit den Söhnen von Sklavenhaltern. Damals schien das utopisch, war aber weder irrational noch kontrafaktisch. Es war sozial, und es war vorstellbar, es war inkludierend, statt exkludierend, jenseits der Logik von Strafe und Rache. In dem von schwarzen Sklaven gebauten Weißen Haus in Washington lebt heute eine schwarzes Ehepaar – der Präsident und seine Frau, worauf Michelle Obama in einer ihrer Reden für Hillary Clinton neulich hinwies. Rassismus gibt es noch. Aber auch das. Seit Platons Höhlengleichnis, wonach wir Menschen aus unserer Höhle – Psyche – heraus nur Schatten sehen und sie deuten, und differenzierter sei Freud und seit Dekonstruktivisten wie Jacques Derrida, kann die Gattung wissen, dass die menschliche Psyche sich ihre Realität anhand ihrer inneren Symbolwelt konstruiert. In der Welt des Bewusstseins, das hatte Freud erkannt, ist das Unbewusste stets mit am Werk. Aber wie sieht diese Symbolwelt aus? Woran orientiert sie sich, wie lesen, deuten und analysieren wir sie, wie arbeiten wir mit ihr? Wie kann, das ist das klarste aller Anliegen, das Ich die irrationalen Anteile integrieren, die antisozial sind?
Erkenne dich selbst, heißt das Motto, woher rührt deine Angst?
Zunächst durch die analytische Anerkenntnis, dass sie existieren. Nicht nur „im Fremden“, im schlimmen „Anderen“, sondern im eigenen Inneren. Das Motto heißt: Nosce te ipsum, erkenne dich selbst. Dafür muss so klar als möglich das Unbewusste vom Realen unterschieden werden, das Phantasmatische vom Faktischen. Nur so wird das Integrieren möglich, aus dem Integrität entsteht. Nur so wird die Basis der Realität erkennbar, wird statt des Asozialen das Soziale entworfen, das – fest, fair und freundlich – noch jeden Terror besiegt hat. Zurück noch mal zu Usedom, dem postfaktischen, ostfaktischen. Es gibt dort reale Unsicherheiten, etwa ein leichtes Gefälle zwischen den Hochburgen des Tourismus und kleineren Ferienorten, oder auch Schwachstellen im Hochwasserschutz. Bei einer Sturmflut, sagen manche, könne es aussehen wie 1913, als das Eiland, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, überschwemmt wurde, und als man die Straßen von Wolgast mit Kähnen befahren musste. Fantasieren die Inselmenschen deshalb von einer Überflutung mit Flüchtlingen? Sturmflut, Chaos, zwei Weltkriege, ein totalitäres System, ein autoritäres System, eine anstrengende Wende: Es gab viele Umbrüche und Traumata zu verarbeiten, es gab viele hohle Versprechungen.
Erst jetzt, in der Demokratie nach 1989, scheint sich etwas zu erfüllen. Wohlstand, volle Hotels und Kassen, relative Sicherheit, Frieden. Aber wenn Angst, auch retroaktiv mobilisierte, unbewältigte Angst, am Werk ist, und wenn sie statt analysiert instrumentalisiert wird, kann das Postfaktische, Irrationale expandieren. Wenn Menschen das dulden und politisch wollen, können sie im Albtraum leben, getrieben vom Pervertierten. Die Geschichte zeigt, wie das geht. Dieselben Menschen können aber auch eine soziale Gesellschaft schaffen, die aus dem guten Traum ihren Antrieb bezieht, und das vorschlagen mit Worten wie: „I have a dream.“
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