Nach der Krawallnacht vom 21. Juni: Polizei in Stuttgart will Stammbäume von Tätern ermitteln
Am 21. Juni tobten Hunderte Randalierer durch Stuttgart: Geschäfte wurden geplündert, Einsatzkräfte attackiert. Die Polizei plant einen umstrittenen Schritt.
Mitten in die deutschlandweite Debatte um latenten Rassismus bei der Polizei und das sogenannte Racial Profiling durch Behörden löst ein Vorstoß aus Stuttgart Empörung aus. Der dortige Polizeipräsident Franz Lutz erwägt, als Folge der Krawallnacht vom 21. Juni in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, die Herkunft der mutmaßlichen Täter recherchieren und veröffentlichen zu lassen. Dies berichtet die „Stuttgarter Zeitung“.
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In Stuttgart war es in der Nacht zum 21. Juni zu schweren Auseinandersetzungen gekommen. Randalierer hatten damals Schaufenster zerstört und Geschäfte geplündert. Nach Angaben der Polizei waren 400 bis 500 Menschen an den Randalen beteiligt – oder hatten dabei zugeschaut. Einsatzkräfte wurden mit Flaschen und Steinen beworfen.
Dem Bericht zufolge kündigte Lutz seine Pläne am Donnerstag bei einer Sitzung des Gemeinderats an, als er auf Antrag der CDU über den aktuellen Ermittlungsstand berichtete. Demnach kündigte er an, dass die Polizei auch bei den Tatverdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter deutschlandweit Stammbaumrecherche betreiben werde.
Der Vorstoß Lutz' stieß nicht nur im Gemeinderat auf Kritik, sondern löste auch in der Bundespolitik Empörung aus. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken twitterte: „Das verstört mich nachhaltig.“
Der Landesdatenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg, Stefan Brink, hat erhebliche Bedenken gegen den Plan. „Aus unserer Sicht ist eine rechtliche Grundlage für solche Nachforschungen zunächst nicht erkennbar.“ Er benötige allerdings für eine fundierte Bewertung nähere Auskünfte der Polizei.
Einige Stadträte in Stuttgart wundern sich nicht nur, was die Pläne mit der Aufklärung der Straftaten zu tun haben sollen, sondern halten den Vorstoß auch für einen Angriff auf Menschen mit Migrationshintergrund. So fragte der Grünen-Stadtrat Marcel Roth: „Wie viele Generationen muss man in Stuttgart leben, um als Bürger dieser Stadt anerkannt zu werden?“ Er hält es für höchstproblematisch, wenn die Polizei jetzt Stammbücher nach Migrationshintergründen durchforstet. „Vor dem Gesetz muss jeder gleich sein, egal, woher er kommt“, zitiert ihn das Blatt.
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Linken-Stadtrat Christoph Ozasek, der Ordnungsbürgermeister werden will, sieht die geplanten Recherchen kritisch. „Die Äußerungen von Polizeipräsident Lutz offenbaren ein Weltbild, das mit den gelebten Werten in Stuttgart in offenem Konflikt steht“, sagte er.
Sobald Hautfarbe und Herkunft ein generelles Verdachtsmerkmal würden, sei illegales Racial Profiling in der Polizeipraxis die direkte Konsequenz. „Herr Lutz schwächt mit den angeordneten Recherchen zum Stammbaum der Tatverdächtigen all diejenigen, die versuchen, die moralische Integrität der Polizei zu stärken“, sagte Ozasek.
Die CDU verteidigte den Kurs der Polizei dagegen. In einer Diskussion, die sich zum dem Thema auf Facebook entfachte, schrieb Thrasivoulos Malliaras, der Vorsitzende der Jungen Union (JU) in Stuttgart: „Wir sind uns alle einig, dass man gezielter in die Präventionsarbeit gehen muss mit allerlei Maßnahmen im Bereich der Straßensozialarbeit.“ Wer gezielter arbeiten möchte, brauche aber genauere Infos – die Herkunftsgeschichten der Tatverdächtigen eingeschlossen.
Jens Lauer, Sprecher des Polizeipräsidiums Stuttgart, begründete die Pläne auf Nachfrage der Zeitung damit, dass es ein großes öffentliches Interesse an der Aufklärung der Straftaten gebe. Die „grundlegende Erhebung personenbezogener Daten“ bemesse sich an der „Schwere des Delikts“, aber auch daran, dass „ganz Deutschland auf den Fall blickt“.
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Lauer zufolge gebe es Fragen dazu, wo die Täter politisch stünden, welches Geschlecht, welche Nationalität und ob sie einen Migrationshintergrund hätten. Letzteres sei nach Ansicht der Behörde dann der Fall, wenn ein Elternteil keine deutsche Staatsbürgerschaft habe. Strafrechtliche Relevanz könne sich aus dieser Frage deshalb ableiten, weil es beim „Jugendstrafrecht schon eine Rolle spielen kann, ob ein Angeklagter aus einem Kriegsgebiet kommt“.
Die Debatte über das Racial Profiling war nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis und den folgenden teils gewalttätigen Protesten auch in Deutschland neu entbrannt. Bundesweit gab es Demonstrationen. Der Begriff Racial Profiling beschreibt Fälle, bei denen Beamte Menschen allein aufgrund von äußeren Merkmalen wie der Hautfarbe kontrollieren. Das ist in Deutschland nach dem Grundgesetz verboten.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hält trotz einiger Forderungen eine Untersuchung zu rassistischen Polizeikontrollen zur Zeit für nicht angemessen. „Jetzt kommt für mich diese Studie nicht infrage“, hatte Seehofer am Dienstag vor Beginn einer Videokonferenz der EU-Innenminister gesagt. Unter anderem die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), hatte Seehofer aufgefordert, den Weg für eine unabhängige Studie über mögliche rassistische Tendenzen bei der Polizei freizumachen.
Es sei richtig, dass sich Seehofer in dieser Frage vor die Beamten stelle, erklärte dagegen Gewerkschaft der Polizei (GdP). Ihr stellvertretender Vorsitzender Jörg Radek sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Wenn diese Studie das Ziel hat, Rassismus in der Polizei zu untersuchen, dann lehne ich das ab.“
Eine Untersuchung, bei der es darum gehe, zu überprüfen, ob die Vorschriften, nach denen die Beamten kontrollierten, „hinsichtlich ihrer Bestimmtheit korrekt sind“, könnte dagegen sinnvoll sein, erklärte Radek. Wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, „was das mit Kollegen macht, wenn sie über Jahre in einem bestimmten Kiez eingesetzt sind“, könnten zudem helfen, die Entstehung von rassistischen Denkmustern bei einzelnen Beamten zu verhindern.
In der Nacht zu Samstag war es in der baden-württembergischen Landeshauptstadt erneut zu Auseinandersetzungen gekommen. Mehrere Menschen wurden vorläufig festgenommen. Mehr als 200 Beamte waren zusätzlich in der Stuttgarter Innenstadt im Einsatz. Unter anderem leistete demnach ein 16-jähriger alkoholisierter Jugendlicher nach einer Kontrolle Widerstand und verletzte vier Polizeibeamte leicht. Bei einer weiteren Schlägerei wurde ein Mensch schwer verletzt.