Deutschland, Europa, USA: Politik im Wunschzettel-Modus
Auf Weihnachten folgt die Zeit der guten Vorsätze für das neue Jahr? Hoffentlich. Eine große Koalition bräuchte dringend mehr Realitätssinn. Ein Kommentar.
Die Weihnachtszeit ist wie Urlaub von der Wirklichkeit. Man darf Wunschzettel schreiben, ohne sich Gedanken um deren Erfüllbarkeit zu machen; sich auf Schlemmereien freuen, ohne sich ums Gewicht zu sorgen; und Freizeit genießen, ohne zu überlegen, wie viel Unerledigtes sich auf dem Schreibtisch häuft.
Auf Weihnachten folgt unweigerlich der Jahreswechsel – mit guten Vorsätzen für ein verantwortungsvolles Leben. Die werden nicht alle erfüllt. Das Nachdenken über die Folgen eines Lebens frei nach Wunschzettel ist aber ein wertvoller Schritt auf dem Weg in die Wirklichkeit des neuen Jahres.
Bedingung für die GroKo: Was die SPD oder was Deutschland braucht?
Die Politik in Deutschland, Europa und den USA ist noch im Wunschzettel-Modus. Angela Merkel wünscht sich jetzt eine Große Koalition und lässt den Eindruck zu, deren Bedingungen richteten sich nicht danach, was Deutschland für seine Zukunft braucht, sondern danach, was die SPD-Oberen ihrer Basis zumuten wollen. Die Mehrheit der Bürger wünscht sich mehr Innere Sicherheit und eine Begrenzung der Zuwanderung. Die SPD mit ihren 20 Prozent übersetzt das als: Bürgerversicherung, höhere Sozialausgaben, mehr Familiennachzug.
Auch in der Europapolitik zeigt sich eine große Koalition des Wunschdenkens. Martin Schulz möchte in den nächsten sieben Jahren Vereinigte Staaten von Europa forcieren. Dafür gibt es schon in Deutschland keine Mehrheit, erst recht nicht bei den EU-Partnern. Die legen Wert auf nationalstaatliche Souveränität.
Der Streit um Flüchtlingsquoten bringt nichts
Im Umgang mit der Migration fehlt der Realitätssinn in fast allen politischen Lagern. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat recht, auch wenn alle beim Vorweihnachtsgipfel über ihn herfielen: Der Versuch, faire Verteilungsquoten durchzusetzen, ist in der Theorie berechtigt, in der Praxis aber „spaltend“ und „unwirksam“.
Die Austragung des Streits wird, selbst wenn Gerichte im EU-Sinn entscheiden, nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Die bisherigen Beschlüsse wurden nicht umgesetzt. Wer soll das in Zukunft erzwingen? Und angenommen, die unwahrscheinliche Einigung kommt, was tut Deutschland, wenn die der Slowakei, Polen oder Finnland zugewiesenen Migranten nicht dort bleiben, sondern nach Deutschland zurückkehren? Stellt die Bundesregierung dann Greiftrupps auf, die sie suchen und an den Bestimmungsort bringen?
Europa sollte auf Anreize statt Zwang setzen
Das Ziel muss sein, die Migration zu begrenzen und durch Anreize besser zu dirigieren. Ein Quotenplan, der die ökonomische und soziale Aufnahmefähigkeit der EU-Staaten bewertet, ist als Maßstab sinnvoll, nicht aber als Basis für Vollzugszwang. Besser wäre ein System, bei dem Länder, die ihre Quoten nicht erfüllen, in einen Topf einzahlen, und Länder, die mehr aufnehmen, Geld erhalten.
Die Bereitschaft, Konflikte auszutragen, wird die EU in anderer Hinsicht brauchen: gegen Staaten wie Polen, die weiter Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen. Der neue Premierminister Mateusz Morawiecki ist auf dem Papier weltläufiger und liberaler als die bisherige Regierungschefin Beata Szydlo. Er ist aber Diener des selben Herrn: Parteichef Jaroslaw Kaczynski. Die Hoffnung, dass neue Gesichter sich von ihm emanzipieren, hat bisher stets getrogen.
Die US-Steuerreform setzt Deutschland zusätzlich unter Druck
Wunschdenken prägt auch das Regierungshandeln in den USA. Die Republikaner haben offenbar die Stimmen beisammen, um die Steuerreform zu verabschieden. Sie ist ein Milliardengeschenk für Unternehmen und Reiche, aber eine Mogelpackung für die meisten Bürger. Die moderaten Steuersenkungen für Normalverdiener entfallen nach wenigen Jahren; danach wird die Gesamtrechnung für viele teurer. Die Erleichterungen für die Wirtschaft bleiben hingegen. Die Republikaner hoffen auf ein Wachstum, das allen zugute komme. Man wird sehen.
Die Reform hat Konsequenzen auch für Deutschland. Alles Lamentieren über ihre soziale Unausgewogenheit ändert nichts daran: Es wird attraktiver, in den USA zu investieren. Eine neue Große Koalition in Berlin muss darauf achten, dass sie diesen Effekt nicht durch höhere Sozialausgaben in Deutschland verschärft.
Kann Gabriel Außenminister bleiben?
Das Jahr 2018 wird der deutschen Außenpolitik mehr Realismus abverlangen. Sigmar Gabriels Grundsatzrede passte nur in die Wunschzettelzeit: Emanzipation von den USA, Flirten mit Putins Russland, Wunsch nach mehr Unabhängigkeit in der Sicherheitspolitik und nach mehr Militärkooperation in Europa, aber ohne die Bereitschaft, mehr Geld auszugeben.
Gabriel wird hoffentlich nüchterner über den Jahreswechsel. Sonst wäre der Preis, ihn als Außenminister zu behalten, zu hoch für eine neue Große Koalition.
Christoph von Marschall ist erster Helmut-Schmidt-Fellow der ZEIT-Stiftung und des German Marshall Fund of the United States (GMFUS) und arbeitet derzeit in Washington an einer Studie über die Zukunft der Transatlantischen Beziehungen.
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