Streit zwischen EU und Polen: Die nächste Stufe
Kanzlerin Merkel und EU-Kommissionchef Juncker sehen die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in Polen mit Sorge. Ein Verfahren zum Entzug der EU-Stimmrechte rückt näher.
Die umstrittene Justizreform in Polen wird in Deutschland und zahlreichen anderen EU-Staaten zunehmend kritisch gesehen. Inzwischen wird in Brüssel und in mehreren EU-Hauptstädten erwogen, das mehrfach angedrohte Verfahren, das einen Entzug der EU-Stimmrechte Polens zum Ziel hätte, einzuleiten. Vor diesem Hintergrund trafen sich am Mittwoch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Berlin.
Mitte des Monats war in Warschau der erste Teil der umstrittenen Justizreform der nationalkonservativen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Kraft getreten. Diese Reform erlaubt es dem Justizminister Zbigniew Ziobro, Gerichtsvorsitzende ohne Grund zu entlassen und nach eigenem Belieben durch neue Kandidaten auszutauschen.
Darüber hinaus verfolgt die Regierung in Polen das Ziel, das Oberste Gericht und den Landesrichterrat, der über die Unabhängigkeit der Justiz wacht, der PiS unterzuordnen. Diesen Teil der Justizreform hat das Parlament ebenfalls verabschiedet. Staatschef Andrzej Duda hat jedoch sein Veto eingelegt, sodass er nicht in Kraft trat. Dies geschah auch unter dem Eindruck der Massendemonstrationen gegen die geplante Reform.
Wann ein Artikel-7-Verfahren wahrscheinlich ist
Welche möglichen Schritte gegen Polens Rechtsstaats-Verstöße Merkel und Juncker am Mittwoch besprachen, blieb vertraulich. Kenner der Materie gehen davon aus, dass der EU-Kommissionschef und die Kanzlerin auf einer Linie sind, was die Einschätzung der problematischen Situation des polnischen Rechtsstaats anbelangt. Sollte die derzeit von Staatschef Duda blockierte Reform des Obersten Gerichts in Kraft gesetzt werden, dürfte die Kommission umgehend ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages einleiten – sprich ein Verfahren zum Entzug von Polens Stimmrechten auf EU-Ebene. Für diesen Fall ist eine Unterstützung von 22 der 27 stimmberechtigten Mitgliedstaaten erforderlich. Die Kommission ist zuversichtlich, dass diese erreicht wird.
Ein bislang beispielloser Schritt
Die Einleitung eines Verfahrens zum Entzug der EU-Stimmrechte wäre ein bislang beispielloser Schritt. Sofern es tatsächlich dazu käme, würde die Schieflage des Rechtsstaats in Polen noch mehr ins Zentrum einer EU-weiten öffentlichen Diskussion kommen. Dass am Ende des mehrstufigen Verfahrens tatsächlich der Entzug der Stimmrechte stünde, ist allerdings fraglich. Dazu wäre nämlich ein einstimmiger Beschluss aller übrigen 27 EU-Staaten nötig. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat bereits angekündigt, dass er ein Veto gegen eine solche Entscheidung einlegen würde.
Dass auch Merkel ein hartes Vorgehen gegen die PiS-Regierung in Warschau mittragen würde, war bereits am Dienstag beim Auftritt der Kanzlerin vor der Bundespressekonferenz deutlich geworden. Merkel sagte, dass die EU einer Auseinandersetzung mit der nationalkonservativen Regierung nicht aus dem Weg gehen dürfe. Sie wünsche sich ein gutes Verhältnis zu Polen, „aber wir können da auch nicht einfach den Mund halten und nichts sagen um des lieben Friedens willen.“ Die „Voraussetzungen für die Kooperation in der Europäischen Union sind die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit“, fügte sie hinzu.
Ohne Polen direkt zu erwähnen, hatte auch Juncker am Dienstag in Brüssel darauf hingewiesen, dass einige EU-Länder „eher Kilometer als Millimeter“ von den Werten der Europäischen Union entfernt seien. „Wir werden dafür sorgen, dass sich das ändert.“
Berlins Kurskorrektur hatte sich abgezeichnet
Die Kurskorrektur der Bundesregierung hatte sich im Verlauf der vergangenen Monate abgezeichnet. Mitarbeiter des Kanzleramts und des Außenministeriums stellten in vertraulichen Gesprächen mit deutschen Polen-Experten die Frage, ob die deutsche Zurückhaltung bei der Bewertung der Vorgänge in Polen angesichts der Angriffe auf die Medienfreiheit, die Gewaltenteilung und die Justiz noch angemessen sei.
Im Kreis der deutschen Polen-Spezialisten ist ebenfalls ein Meinungsschwenk zu beobachten. Nach dem Wahlsieg der PiS 2015 hatten viele von ihnen zunächst für ein Abwarten plädiert. Eine harte Kritik, zumal von Deutschland, würde die PiS nutzen, um die antideutsche Karte zu spielen und den Konflikt als Ausweis deutschen Dominanzstrebens darzustellen. Die „Kopernikusgruppe“, die alle sechs Monate die bilateralen Beziehungen analysiert, warnte in ihrem jüngsten Arbeitspapier Anfang August jedoch vor „nachhaltigem Schaden“. Die PiS stelle Demokratie und Rechtsstaat infrage und strebe mit Ungarn eine „kulturelle Konterrevolution“ gegen die liberale Bürgergesellschaft an, schrieben die Experten.