Gesundheitspolitik: Patientenwille gleich Patientenwohl?
Wie autonom kann jemand entscheiden, der krank ist? Wie mit dem Arzt umgehen, von dem man abhängt? Über Patienten zwischen Selbstbestimmung und ärztlicher Fürsorgepflicht. Ein Essay.
Die 48-jährige Frau S. erleidet eine plötzliche, kurzdauernde Bewusstlosigkeit und wird in eine Klinik eingeliefert. Sie hat eine Kopfprellung, gibt jedoch geordnet Auskunft und berichtet über eine seit vielen Jahren bekannte unbehandelte Anämie. Eine Blutabnahme ergibt einen Hb-Wert von 3,8, was etwa einem Viertel dessen einer gesunden Frau ihres Alters entspricht. Damit ist die Ursache des Kollapses geklärt, der Arzt stellt eine stationäre Aufnahmeindikation, doch die Patientin lehnt ab. Trotz eingehender Aufklärung über die Risiken einer Entlassung wird sie „auf ihren Wunsch und gegen dringenden ärztlichen Rat“ entlassen. Wie man diese Entscheidung auch bewerten mag – sie war selbstbestimmt und rechtlich unanfechtbar.
Selbstbestimmung, oftmals gleichgesetzt mit Autonomie, ist gemäß unserem Verfassungsverständnis als substantielles Element menschlicher Würde zu begreifen. Selbstbestimmung, verstanden als die Freiheit, über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug zu entscheiden, soweit die Rechte Dritter nicht verletzt werden, ist zu einem Schlüsselbegriff moderner Gesellschaften geworden.
Vom mündigen Bürger zum mündigen Patienten war es ein nur folgerichtiger, geradezu zwingender Schritt. Er nötigte die Ärzteschaft dazu, dem Patienten auf Augenhöhe zu begegnen und ihn in die Lage zu versetzen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Aber Autonomie im Rechtssinn und im Fähigkeitssinn stehen in einem heiklen Verhältnis zueinander. „Imperfekte Autonomie“, wie der Rechtswissenschaftler Christian Katzenmeier zutreffend bemerkt, macht die Einbeziehung einer Ethik ärztlicher Fürsorge unabdingbar, nicht, um überkommene Modelle von ärztlichem Paternalismus wiederzubeleben, sondern im Sinne differenzierter Beratung und Aufklärung, eingebettet in empathischen Zuspruch.
Das Verhältnis von ärztlichem Auftrag und Autonomie des Patienten als Schlüsselkontroverse in Medizin und Bioethik
Der hohe normative Stellenwert der Patientenautonomie stellt eine Errungenschaft dar, die wir eher der Judikatur verdanken als der Ärzteschaft. Es waren und sind mutige anwaltliche Initiativen und Richter des Bundesgerichtshofs, die bestehendes, im Grundgesetz niedergelegtes Recht erkannt und ihm zur Geltung verholfen haben, ohne das letztlich auch die erfreuliche Ausweitung der Palliativmedizin und der Hospizbewegung nicht denkbar ist. Bedeutung und Anerkennung des Prinzips der Selbstbestimmung wurden zusätzlich getriggert durch den rasanten medizinischen Fortschritt: Reanimation, Dialyse, künstliche Ernährung und Beatmung, Transplantationsmedizin und Herzschrittmacher haben Leben und Sterben in zuvor nie gekannter Weise manipulierbar gemacht. Deren ebenso weitreichende wie komplexe ethische und medico-legale Implikationen durften weder den Willen des Patienten und seine individuellen Präferenzen noch die Problematik der Ausgestaltung ärztlicherseits indizierten Handelns außer acht lassen. Seitdem bildet das Verhältnis von ärztlichem Auftrag und Autonomie des Patienten eine, ja vielleicht die Schlüsselkontroverse in Medizin und Bioethik.
Diese Kontroverse ist nicht neu. Vielmehr fällte das Reichsgericht schon 1894 jenes berühmte Urteil, das den ärztlichen Heileingriff erstmals als tatbestandsmäßige Körperverletzung qualifizierte und damit jede ärztliche Behandlung von der Einwilligung des Patienten abhängig machte. Eine noch weitergehende, die Selbstbestimmung des Patienten betreffende Klarstellung nahm der Bundesgerichtshof 1957 vor: Ein Kranker darf selbst dann einen Heileingriff ablehnen, wenn er durch diesen von einem lebensbedrohlichen Leiden befreit würde.
Indes ignorierte die Ärzteschaft über viele Jahrzehnte den Einwilligungsvorbehalt des Patienten. Vielmehr regierte die ärztliche „Heilgewalt“ im Gewand des sogenannten „benevolenten Paternalismus“ (wohlmeinende Väterlichkeit) das Arzt-Patient-Verhältnis bis in die jüngste Zeit. Und kaum ein Kranker wagte es, gegen das, was der Arzt für angezeigt hielt, aufzubegehren. Heute ist die Rechtslage eindeutig klargestellt: Die ärztliche Fürsorgepflicht ist dem Willen des Patienten grundsätzlich nachgeordnet, womit die Asymmetrie des Verhältnisses von Arzt und Patient korrigiert wurde.
Indes, Menschen handeln stets nicht allein nach den Vorgaben des Gesetzgebers, sondern innerhalb konkreter individueller und sozialer Rahmenbedingungen: Grundkonditionen auf Seiten des Patienten sind Angst, Ambivalenz und Unwissenheit, auf Seiten des Arztes ökonomischer Druck, Ressourcenknappheit, nicht selten Überforderung oder die Verfolgung von Eigeninteressen. Dass das Recht auch von den wahren Aufgaben ablenken, ja geradezu pervertiert werden kann, verdeutlicht beispielsweise die ärztliche Aufklärungspflicht, die im klinischen Betrieb allzu oft zu einer Maßnahme verkommt, die eher der rechtlichen Absicherung des Arztes dient und einen Patienten zurücklässt, der eher verstört als aufgeklärt ist.
Autonomie macht nur dann Sinn, wenn sie – ärztlicherseits – respektiert wird
Auszugehen ist heute von einer weithin akzeptierten „liberalen Standardauffassung“ von Patientenautonomie. Dabei wird Autonomie als ein sich in einer einzelnen Handlung manifestierendes Vermögen verstanden, das ausschließlich über das Verfahren der Entscheidungsfindung definiert ist. Autonomie (und der Respekt vor ihr) ist also nicht von deren Inhalten abhängig zu machen. Eine Entscheidung mag Außenstehenden, etwa dem Arzt, noch so bizarr erscheinen – ob sie selbstbestimmt getroffen wurde oder nicht ist allein davon abhängig, wie sie zustande gekommen ist bzw. welche strukturellen Merkmale der Entscheidungsprozess und die Verfassung des Entscheidungsträgers aufweisen. Dabei werden in medizinethischen Kontexten die prozeduralen Kriterien eher niedrig angesetzt, um nur in Ausnahmefällen Entscheidungen anzweifeln zu können. Die Entscheidungen muss (im Großen und Ganzen) wohl erwogen sein, es sollen (nicht müssen!) die nötigen Informationen aufgenommen und verstanden worden sein und letztlich muss bei ihrem Zustandekommen eine irgendwie geartete Zwangssituation ausgeschlossen sein. Zu welchem Resultat der entscheidende Mensch kommt, ist allein seine Sache.
Autonomie macht nur dann Sinn, wenn sie – ärztlicherseits – respektiert wird. Noch heute gilt vielen Ärzten der Respekt allein dem Abwehrrecht des Patienten gegen jede Form seiner Instrumentalisierung oder Bevormundung. Doch dieser Respekt ist – und das ist entscheidend – nicht allein als „negative“ Verpflichtung auszulegen, vielmehr beinhaltet Respekt vor der Patientenautonomie für den Arzt auch eine „positive“ Verpflichtung, eine Bringschuld dem Patienten gegenüber. Ärzte haben sich auch als „Geburtshelfer“ der Patientenautonomie zu begreifen und das Gespräch mit dem Patienten zu suchen. Die Autonomie des Patienten zu respektieren ist nicht gleichzusetzen mit bloßer Nichteinmischung in die Willensbildung des Patienten.
Diese Bringschuld muss mehr denn je zum Teil ärztlicher Fürsorgepflicht werden; zumal überbordende Informationen zu Gesundheitsfragen im Internet, ein exponentiell sich entwickelnder medizinischer Fortschritt, das Angebot immer neuer Therapien sowie die zunehmende Verrechtlichung der Medizin den Ärzten keineswegs den informierten und aufgeklärten Patienten beschert haben. Vielmehr sind Orientierungslosigkeit, Verstörtheit und Misstrauen in die Medizin weit verbreitet, was einem Verlust an Autonomiebefähigung des Patienten gleichkommt.
Das gravierendste Hindernis dafür, dass der Patient seine Selbstbestimmung wahrnimmt, liegt in der Krankheit selbst
Der Auftrag des Arztes zur „Selbstermächtigung“ des Patienten ist niedergelegt in der „Charta zur ärztlichen Berufsethik“, die den nach Inhalt und Formulierung veralteten Hippokratischen Eid abgelöst hat. Die Charta wurde 2002 international von zahlreichen Ärzteorganisationen formuliert und verpflichtet den Arzt gleich in ihrem ersten Absatz dazu, „den Interessen des Patienten zu dienen… und diesen darin zu unterstützen, sich zu informieren und sachgerechte Entscheidungen über ihre Behandlung zu treffen“. Damit wird – trotz des Vorranges der Patientenautonomie – keineswegs grenzenlosen Forderungen des Patienten stattgegeben. Er darf zwar ausnahmslos jede ärztliche Behandlung untersagen, jedoch nur Behandlungen fordern, die ärztlicherseits indiziert sind. Auch Aspekte der Gerechtigkeit und Ressourcenlage können die Patientenautonomie einschränken. Gegen das oben skizzierte „Standardverständnis“ von Autonomie werden allerdings Einwände erhoben. So fordern manche Kritiker eine sogenannte „Befähigungspflicht“ des Patienten: Zwischen Arzt und Patient sei das gemeinsame Erörtern gesundheitlicher Ziele und medizinischer Optionen unabdingbar, bevor eine Entscheidung tatsächlich autonom genannt werden dürfe. Zudem gibt es den Hinweis darauf, dass das, was wir für unser individuelles Selbst halten, tatsächlich ein soziales Konstrukt, das heißt: Ausdruck einer sozialen Identität ist, was konkret bedeuten würde, auch Angehörige und Freunde des Patienten als Mitentscheidende vor einer Behandlung einzubeziehen.
Ein Dilemma aber bleibt: Das gravierendste Hindernis dafür, dass der Patient seine Selbstbestimmung wahrnimmt, liegt in der Krankheit selbst. Die mit ihr einhergehenden Hoffnungen und Ängste, Symptome und Leidenszustände erschweren oder verhindern allzu oft – zumal dann, wenn das Gehirn mitbetroffen ist – eine authentische und nachhaltige Willens- und Urteilsbildung des Kranken und lassen seine Behandler und Angehörigen ratlos zurück; umso mehr dann, wenn mündliche Willensbekundungen aus gesunden Tagen oder eine Patientenverfügung nicht existieren.
Letztlich scheuen nicht wenige Patienten, ihre Selbstbestimmung auch wahrzunehmen. Nicht allein der Arzt hat dem Patienten gegenüber eine Bringschuld; auch der Patient hat, wenn auch keine rechtliche, so doch eine moralische Verpflichtung, Entscheidungsverantwortung für sich zu übernehmen, also den Dialog mit sich selbst, seinem Arzt oder seinen Angehörigen zu suchen, bevor er denn eine Entscheidung trifft, die möglicherweise unumkehrbar ist. Fazit: Richtig verstandene Selbstbestimmung bleibt ohne Dialog ein Fragment.
- Der Autor ist Chefarzt a. D. und war viele Jahre Leiter der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses in Berlin
Michael de Ridder