Politik: „Sie sind doch der Arzt!“
Überall wird er beschworen: der mündige Patient. Aber ein Patient ist ein kranker, hilfesuchender Mensch. Kann der mündig sein? Will der überhaupt mitreden – oder sich lieber ergeben, wie es einst üblich war?
Die Behandlungsräume haben zwei Türen, es sind Durchgangszimmer. Das ist effizient und abgestimmt auf ärztliches Arbeiten unter Zeit- und Kostendruck. Für die Patienten ist es eine zusätzliche Verunsicherung. Wer kommt wo rein, geht wo raus, es gibt keine Gewissheiten. Was sie an den beiden Türen sehen ist, dass sie nicht die Endstation eines ärztlichen Weges sind. Sie sitzen wartend in den Durchgangszimmern, und wenn der Arzt bei ihnen stoppt, „Guten Tag, und? Was fehlt uns denn?“ reden sie in abgehackten Sätzen, als habe der Effizienzgedanke der räumlichen Aufteilung sie mit ergriffen. Rücken schmerzt, Knie verdreht, sie halten Körperteile hin. „Da, Herr Doktor, schauen Sie selbst.“ Als wisse der Arzt ohnehin mehr über ihr Leiden als sie.
Es ist ein normaler Montag in einer Praxis in Berlin-Zehlendorf im Sommer des Jahres 2013, an dessen Anfang der mündige Patient zum zentralen Anliegen der Gesundheitspolitik erklärt wurde. Dafür wurde ein Gesetz erlassen, das seine Rechte und Einflussmöglichkeiten erweitert. Er soll seine Patientenakte einsehen können, bei Schadenersatzklagen wegen Behandlungsfehlern von den Kassen unterstützt werden, er kann eine Quittung „mit Kosten- und Leistungsinformationen in verständlicher Form“ verlangen oder im neuen Patientenrechtegesetz in gebündelter Form lesen, was ihm zusteht. Im gesetzbegleitenden Grußwort des zuständigen Ministers Daniel Bahr sagt der: „Das Gesundheitssystem braucht den und die aufgeklärten, eigenverantwortlichen und mündigen Patienten und Patientinnen.“ Wozu es die braucht, sagt er nicht.
Und noch eine Frage stellt sich: Wie mündig und eigenverantwortlich kann ein Mensch handeln, der sich doch zugleich mit einem Leiden behaftet im Angesicht des Heilbefähigten befindet?
Gerade ist der Arzt bei einer alten Dame. Gemeinsam schauen sie auf Röntgenbilder von ihrem Knie. Sie ist gestürzt. Der Arzt erklärt, was die Schemen darstellen. Die Patientin blickt orientierungslos über das Bild. Zu unklar die Konturen. Sie solle das Knie schonen, sagt der Arzt. Was außerdem helfen würde?, fragt sie. Der Arzt schaut sie an. Er könnte ihr Sohn sein. Der Sohn einer gemütlichen, etwas in die Breite gegangenen alten Dame. Er sagt: „Abnehmen.“
Sie schweigt leicht schockiert.
„Äh,. . . und was noch?“
Der Arzt schaut sie an. Sie schluckt. „Ja gut“, sagt sie dann und fragt, wann sie wiederkommen solle, sie fahre jetzt nämlich in den Urlaub nach Österreich. Mit dem Auto. Ja, sie fährt.
„Was? Sie?“
Die alte Dame bemerkt den Fehler und plappert los. Ihr Mann könne nicht mehr . . ., sie kenne die Strecke doch, sie führen da seit Jahren . . ., sie mache immer viele Pausen, eine Bahnverbindung gebe es ja auch gar nicht dahin. Sie seufzt, wenn der Arzt sagt „und was, wenn Sie plötzlich bremsen müssen?“, oder „davon kann ich Ihnen wirklich nur abraten“. Schließlich gibt sie auf. „Ja, gut, Herr Doktor. Ich überleg’s mir.“ Dann geht sie, und der Arzt bleibt zurück mit der Gewissheit, dass die Patientin seine Empfehlungen ignorieren wird. Weder wird sie das Auto stehen lassen noch abnehmen.
Statt dem Experten zu folgen, übernimmt sie, obwohl zu der Generation gehörend, die das respektvolle „Herr Doktor“ fest im Sprachgebrauch hat, die Risikoabschätzung selbst und macht ihr Leiden, der in Anspruch genommenen Solidargemeinschaftsleistung zum Trotz, zur Privatangelegenheit. Im Arzt, scheint es, sieht sie vor allem den Ausschließer akuter Gefahren und Heilmittelverschreiber.
Dass Patienten nicht machen, was Ärzte ihnen raten, hat in der Branche einen Namen: Non-Compliance heißt das, fehlende Therapietreue. Die Gesetzliche Krankenversicherung GKV schätzt, dass jeder zweite Patient bei einer Langzeittherapie seine Medikamente nicht wie vorgeschrieben einnimmt. Das verursacht möglicherweise zusätzliche Gesundheitsschäden und garantiert so nutzlose wie milliardenschwere Ausgaben. Wie also bringt man die Kranken dazu, dem ärztlichen Rat zu folgen? Diese banal daherkommende Frage ist eine der Kernherausforderungen für das Gesundheitswesen.
Im brandenburgischen Kremmen hat ein Mediziner seine Praxis, der viel von der Idee des mündigen Patienten hält und sich seit Jahren darum kümmert, ihm im ärztlichen Alltag mehr Gewicht zu geben. Ulrich Schwantes hat an der Berliner Humboldt-Universität Entscheidendes mit bewegt. Dass die Vermittlung des Arzt-Patienten-Gesprächs, der oft unterschätzten Basis jeder Behandlung, zur Pflichtveranstaltung im Studiengang Medizin wurde, geht auch auf ihn zurück.
Schwantes, 67 Jahre alt, groß und sportlich, in seinem Behandlungszimmer sitzend, vergleicht das gelungene Verhältnis von Arzt und Patient mit dem von guten Eltern und ihren Kinder. Die Großen wollen die Kleinen in die Lage versetzen, alleine klarzukommen. Und wie manche Kinder verweigern sich manche Patienten dieser Mühe. Schwantes sagt: „Mündig heißt nicht klug.“ Eher meint es: zum Mitreden befähigt, aufgeklärt sein.
Der mündige Patient, das ist auch ein ernst genommener Mensch, und der spielte im hierarchischen Verhältnis von Arzt und Patient seine letzte große Rolle vor mehr als 200 Jahren. Aktuell sieht es laut Schwantes so aus, dass es in einem durchschnittlichen Arzt-Patienten-Gespräch zehn Sekunden dauert, bis der Arzt den Patienten zum ersten Mal unterbricht. Ärzte hätten Angst vor monologisierenden Plappertaschen auf dem Behandlungsstuhl, die ihre Zeitplanungen durcheinanderbrächten. Eine Vergleichsstudie in sechs europäischen Ländern ergab, dass in Deutschland die kürzesten Patientengespräche geführt werden; sie dauern durchschnittlich acht Minuten.
Dabei gehörte das ausführliche Patientengespräch einst ganz wesentlich zur Medizin. In den Zeiten der Romantik war es neben dem Pulsfühlen oder der Ausscheidungenbetrachtung das einzige Diagnoseinstrument der Ärzte. Sie hörten dem Kranken sehr lange zu, bis sie sich für einen ihrer wenigen und keiner wissenschaftlichen Überprüfung unterzogenen Therapieansätze entschieden, und schon diese Aufmerksamkeit wirkte manchmal heilsam. Physiologisches Wissen hatten die Ärzte indes nicht, oft genug lagen sie mit ihren Verordnungen völlig falsch, entsprechend gering war ihr gesellschaftliches Ansehen.
Das änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Medizin in den Rang einer Naturwissenschaft aufstieg. Was dann geschah, wurde auf einer Tagung im Berliner Universitätsklinikum Charité 2009 von der Medizinhistorikerin Barbara Wolf-Braun so skizziert: Die diagnostischen Methoden wurden verbessert, das Funktionieren des menschlichen Organismus entschlüsselt, Robert Koch entdeckte den Tuberkulose-Erreger und danach die Mikrobiologie, Krankheiten wurden identifiziert und Gegenmittel erprobt, Narkosemittel machten Operationen möglich.
Oder wie Ulrich Schwantes es formuliert: „Im 19. Jahrhundert dachte man, wir können froh sein, dass wir uns nicht mehr um den Patienten als Ganzes kümmern müssen, sondern uns ganz auf die Krankheit konzentrieren können.“ Man lernte das Trennen, verarztete das Kranke, statt den Kranken.
Ab 1883 wurde im Deutschen Reich die Krankenversicherung eingeführt, gut 40 Jahre und einen Weltkrieg später war die Hälfte der Bevölkerung krankenversichert. Die Kassen verteilten Zulassungen an Ärzte, deren Aufgabe es laut Barbara Wolf-Braun wurde, „über Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsfähigkeit zu entscheiden“. Dass damit die Macht der Mediziner wuchs, nahmen die gern an. Sie verlangten Gehorsam und Respekt vom Patienten, im Krankenhaus erst recht. Dort war der Ton herrisch, und wer konnte, ging ins Privatsanatorium.
Nach dem Ende des NS-Regimes wurden die Menschenrechte formuliert und für den Patientensektor das Prinzip des „informed consent“, der informierten Entscheidungsfindung: Nie wieder sollten Menschen ohne ihr Einverständnis medizinischen Prozeduren unterzogen werden. Ärzte mussten Patienten erklären, was Krankheit und Therapie bedeuten. Später weckte das Internet Mitsprachewünsche und Informationsgelüste. Doch war bereits klar, dass nicht jeder Arzt Gespräche mit Patienten so führen kann, dass die verstanden, was er sagte. Zu groß der Wissensabstand, zu unübersetzbar die Sachverhalte. Einer Krankenhausstudie zufolge fügen sich 75 Prozent der Patienten in die ärztliche Kommunikationsstruktur, sogar wenn die für sie unverständlich ist.
Dass das Krankenhaus als künstlicher Raum wenig hilfreich ist für die Entwicklung von Selbstverantwortung auf Patientenseite, war ein Eindruck, den auch Schwantes einst gewann. Es war Mitte der 1970er Jahre, und er war ein junger Arzt in einer Wuppertaler Klinik, vor allem mit der Behandlung von Diabetikern beschäftigt, als er eines Tages dachte: Was tun wir hier eigentlich?
Macht es Sinn, einen Diabetiker unter klinischen Bedingungen zu behandeln, wenn er doch irgendwann wieder in sein Leben zurückgeht und dort mit seiner Krankheit zurechtkommen muss? Müsste man sich nicht darum viel mehr kümmern, den Patienten darauf vorbereiten?
Er sprach mit Kollegen und Vorgesetzten über seine Zweifel und hörte deren Spott über solchen „neumodischen Kram“. Wie sollte das auch gehen? Sollte sich ein Arzt etwa von jedem Kranken Storys über dessen häusliche Situation anhören? Um Gottes willen!, hörte er.
Und doch war die Zeit damals gekommen für grundsätzliche Zweifel am medizinischen Betrieb. Patienten machten, wie zuvor bereits die bürgerrechtsbewegten Bürger, den Mund auf. Sie gründeten Selbsthilfeorganisationen, fingen an, sich schlau zu machen, erste Ratgeberbücher erschienen. „Die wollen mit mir diskutieren!“, empörten sich die Standesbewussten unter den Medizinern. Schwantes aber fand die neue Bewegung spannend. Er ließ sich von Patientengruppen nach Feierabend in die Kneipe bitten, um dort Vorträge zu halten. Er hörte dort nicht nur Fragen von Kranken, sondern auch dezidierte Forderungen und stellte fest, dass er sich in seiner bisherigen Laufbahn kaum um deren Meinung gekümmert hatte. Das wollte er nun ändern.
Er verließ die Klinik und arbeitete in einer Praxis weiter, verließ dann Wuppertal und kam nach Berlin, wo er eine Professur annahm, und später übernahm er noch die Praxis in Kremmen. Er sagt: „Wir wissen viel über Krankheiten, aber nur wenig über Patienten.“ Ein Patient ist nicht nur Träger einer Krankheit. Er ist als Kranker auch Experte seines persönlichen Leidens. Er könnte vom Arzt ohne Ansehensverlust in die Therapiefindung eingebunden werden; höchstwahrscheinlich wird er, wenn er eingebunden ist, die Therapie auch ernsthafter befolgen, als wenn er sie von oben herab verschrieben bekommt.
Für die zerbröselnde Beziehung von Arzt und Patient macht nicht nur Schwantes das Spezialistenwesen mitverantwortlich. 51 Facharztbezeichnungen gibt es in Deutschland, dazu kommen 47 Zusatzbezeichnungen. Jeder Fachmann wirft auf den Patienten nur seinen Fachmannblick, das große Ganze verliert sich dabei zwischen Überweisungsformularen. Die Patienten machen diese Zersplitterung mit. Schwantes zitiert den Patientenspruch: „Sie müssen mich mal wieder neu einstellen.“ Es soll heißen, die Dosierungen von Arzneimitteln verändern. „Neu einstellen“, sagen die Kranken, als hätten sie ihr Auto zum Kfz-Meister gebracht.
Der 2011 verstorbene Ärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe hat den Glauben der Menschen an den „Reparaturbetrieb Medizin“ oft kritisiert. Die Menschen lebten ungesund, statt Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen, und meinten, Arzt oder Klinik würden die dadurch entstehenden Schäden schon wieder beheben. Frei nach dem Motto: „Sie sind doch der Arzt!“
Mit dem Bild vom Reparieren kam auch das Nachdenken über die Begrifflichkeiten auf. Ist ein Kranker ein Patient oder doch eher ein Kunde? Ist ein Arzt ein hippokratisch vereidigter Heilberufener oder ein unter Rentabilitätsdruck arbeitender Dienstleister? Debatten um Zwei-Klassen-Medizin und Kostenexplosion belasten zusätzlich das Arzt-Patienten-Verhältnis, dem die Gesetzgebung eine beichtgeheimnisähnliche Vertraulichkeit zugesteht. Doch wie entwickelt sich Vertrauen, wenn ein Kranker von einem zum nächsten Arzt rennt? Hier eine Computertomografie, dort eine Spiegelung, wieder woanders eine physiotherapeutische Maßnahme. Die Einführung der sogenannten „Individuellen Gesundheitsleistungen“ kurz IGeL, alles Selbstzahlerleistungen, haben ein Übriges dazu beigetragen, dass Patienten ärztlichen Empfehlungen mit Skepsis begegnen.
In einer Dissertation über hausärztliche Gesprächsführung von 2009 heißt es, dass ein Mangel an Vertrauen in der Arzt-Patienten-Beziehung dazu führe, dass wichtige Probleme nicht angesprochen werden. Außerdem zeigten Studien, dass 54 Prozent der Probleme der Patienten und 45 Prozent ihrer Anliegen weder durch den Arzt erfragt, noch durch den Patienten mitgeteilt würden. Was eine richtige Diagnose erschwert, also auch das Verordnen der richtigen Therapie.
Wie man das besser machen könnte, wird an einem Sommermorgen auf dem Charité-Campus unterrichtet. SP steht auf dem Stundenplan, das Simulationspatientenprogramm. Eine Schauspielerin mimt eine Kranke, eine Studentin übt sich in ärztlicher Kommunikation. Es geht um „Motivierende Gesprächsführung“.
Die Schauspielerinpatientin kommt in den Seminarraum und setzt sich über Eck ans Tischende, der Ärztinstudentin gegenüber. „Ich möchte aufhören mit dem Rauchen“, sagt sie, und dann folgt ein langes Gespräch über Art der Sucht, Gründe fürs Aufhörenwollen, angenommene Probleme beim Aufhörenwollen, Therapien fürs Aufhören. Mit am Tisch sitzen acht weitere Studierende, die machen Notizen zum Gesprächsverlauf. 15 Minuten spricht die Ärztinstudentin mit der Raucherin. Dann wird Kritik geübt. Sie hätte den Entwöhnungsbeschluss mehr loben können. Sie hätte weniger Therapiemöglichkeiten anbieten sollen. Es sei gut gewesen, dass sie die Raucherei nicht verurteilt habe, sagt eine, das wäre ihr schwer gefallen. Sie sagt, sie finde es „schwierig, Verständnis zu haben für extrem unvernünftiges Verhalten“.
Doch genau das ist es, was hierzulande mit zu den häufigsten Diagnosen – Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Adipositas – führt. Weil der mündige Mensch sich für die Unvernunft entscheidet.
Ariane Bemmer
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