Debatte um Sterbehilfe: Die Palliativmedizin kann viel mehr, als Schmerzen lindern
"Die Diskussion über Sterbehilfe ist eine große Nebelkerze", sagt der Palliativarzt Gian Domenico Borasio. Denn sie lenkt von den wahren Bedrohungen am Lebensende ab. Trotzdem will er ein Gesetz, das den begleiteten Suizid in Ausnahmefällen erlaubt. Damit endlich Schluss ist mit der Debatte, die am Donnerstag im Bundestag beginnt.
Er hat jetzt das schwarze Sakko ausgezogen und sich einen Pullover übergestreift. Sitzt in den Polstern eines Cafés, gleich um die Ecke des Zürcher Hauptbahnhofs, und der Pullover leuchtet in einem gut gelaunten Orangeton, als wollte er dem Herbstgrau ein Licht aufsetzen. Als sollte die Farbe einen Kontrast zu dem Thema bilden, um das es im Zürcher Café gleich gehen wird, ums Sterben. Und als sollte diese Farbe eine Botschaft übermitteln: dass das Sterben sehr viel mit dem Leben zu tun hat.
Daran glaubt Gian Domenico Borasio fest. Deshalb ist er Palliativmediziner geworden, einer der bekanntesten, die es gibt. Wenn der Deutsche Bundestag an diesem Donnerstag beginnt, über ein Gesetz zur Sterbehilfe zu diskutieren, über die Hilfe zum Suizid, dann wird Borasio im Hohen Haus zwar nicht persönlich anwesend sein, aber ein Stück von ihm schon. Denn zusammen mit drei Medizinethikern und Juristen hat der 52-Jährige einen Vorschlag zu einem Gesetzentwurf vorgelegt. Und wenn die Zeichen nicht trügen, dann könnte das Gesetz, das nach gründlichen Debatten etwa in einem Jahr verabschiedet werden soll, seine Handschrift tragen. So etwas ist ihm schon einmal gelungen. Als im Jahr 2009 der Bundestag das Gesetz zur Patientenverfügung auf den Weg brachte, hatte Borasio daran mitgewirkt. Sein Buch „Über das Sterben“ ist mit mittlerweile mehr als 150 000 Verkäufen ein Bestseller geworden, und nun im Oktober hat er ein zweites vorgelegt: „selbst bestimmt sterben“.
Weinen und Lachen gehören zusammen, glaubt er
Dass das Weinen und das Lachen, das Leben und das Sterben sehr viel miteinander zu tun haben, ja zusammengehören, ist nicht nur Borasios tiefe Überzeugung, das lebt er auch vor. Zum Beispiel gerade jetzt in Zürich, kurz bevor er sich ins Café setzte und als er noch das schwarze Sakko anhatte. Da hat er im städtischen Kunsthaus einen Vortrag gehalten. Ganz entspannt steht er am Pult, spricht in freier Rede, scherzt mit seinem Publikum im ausverkauften Saal. Und da ist keine sterbensmäßige Ergriffenheit bei den 500 Zuhörern, kein Ernst im Angesicht des Todes. Genau darüber spricht er, aber mit so viel Leichtigkeit und Lust am Wortwitz, dass im Saal eine unvermutete Heiterkeit ausbricht, als hätte der da vorne frohe Botschaften verbreitet.
Hat er ja auch. Weil er gegen die Angst angeredet hat, gegen die Angst, dass das Sterben nur Schmerz und Furcht und Elend sei. Weil er Wege und Auswege gewiesen hat. Und zeigte, dass sich solche Auswege nicht nur in der Sterbehilfe eröffnen, in der Suizidhilfe oder gar in der aktiven Sterbehilfe, der Tötung auf Verlangen, sondern in seinem Fachgebiet, der Palliativmedizin. Und die kann viel mehr, als Schmerzen lindern.
Während er nun im Café über dieses Thema spricht, wird Gian Domenico Borasio, der mit seinem schwarzen Bartgesicht eigentlich ein freundlicher, besonnener Mann ist, ein wenig ungeduldig, ein wenig zornig auch. Weil er nun schon so viele Jahre gegen die Reduzierung der Palliativmedizin auf die bloße Schmerzbehandlung kämpft. Dabei mache das Thema Schmerzen nur ein Sechstel der palliativen Tätigkeit aus. Genauso wichtig und oftmals wichtiger sei es indessen, den sterbenden Menschen in seinem psychischen Befinden zu verstehen, in seinem kulturellen Herkommen, in seinen spirituellen Bedürfnissen. Und dafür gebe es eine ganz einfache Methode. „Zuhören“, sagt Gian Domenico Borasio, „zuhören, zuhören.“ Und verkündet sogleich sein ganzes ärztliches Credo: „Die Medizin der Zukunft“, sagt er, „wird eine hörende sein, oder sie wird nicht mehr sein.“ Er zitiert den Philosophen Sören Kierkegaard: „Wenn wir jemandem helfen wollen, müssen wir zunächst herausfinden, wo er steht. Das ist das Geheimnis der Fürsorge.“
Warum Borasio zur Palliativmedizin fand
Dabei war es eigentlich ein Zufall, dass aus dem Medizinstudenten Borasio ein Palliativarzt wurde. Aufgewachsen ist er in Mailand, und weil ihn seine Eltern mit europäischem Weitblick dort auf die deutsche Schule schickten, spricht er ein perfektes, von keinerlei italienischem Akzent getrübtes Deutsch. Was die beste Voraussetzung dafür war, als Ort für sein Medizinstudium die Münchner Universität zu wählen. Arzt aber wollte er im Grunde gar nicht werden, sondern – „eine Laborratte“, wie er sagt, Forscher in der Neurobiologie.
Dann aber ereignete sich etwas, das seinen Berufsweg vollkommen verkehrte. 1989 wurde er – nach einer Zeit als Wissenschaftler am Max-Planck-Institut – damit beauftragt, an der Neurologischen Klinik der Münchner Ludwigs-Maximilian-Universität für Menschen, die an der Nervenkrankheit ALS litten, eine Spezialambulanz aufzubauen. Und weil es sich bei ALS um eine unheilbare Erkrankung handelt, begann er, Patienten und deren Familien bestmögliche Betreuung und Begleitung anzubieten, Symptomlinderung inbegriffen. Als er einem Kollegen, der früher in einem Sterbehospiz gearbeitet hatte, davon erzählte, sagte der: Was du mit deinen ALS-Patienten machst, das ist Palliativmedizin. Und Borasio, ahnungslos, antwortete: „Palliativ – ???“ Aus der Ahnungslosigkeit wurde ein Lebenswerk.
Gian Domenico Borasio betrat Neuland, baute in München einen palliativen Dienst auf, nachdem er als erster habilitierter Mann in der Geschichte der medizinischen Fakultät der Ludwigs-Maximilian-Universität ein Jahr unbezahlten Erziehungsurlaub für seine Tochter genommen hatte. Er widmete sich nach seiner Rückkehr ganz und gar der Palliativmedizin, engagierte sich für deren Verbreitung und Verbesserung, wurde 2006 Ordinarius in München und 2011 an der Universität von Lausanne. Zwei Jahre zuvor war die Palliativmedizin endlich als reguläres Fach ins Arztstudium aufgenommen worden. Auch das war sein Verdienst.
Er spricht eine Stunde, zwei, vier
Gian Domenico Borasio, der Kämpfer. Man kann ihm zusehen dabei im Zürcher Café. Ganz ungebremst und gewiss auch unbremsbar kann er sich in Leidenschaft hineinreden. Spricht eine Stunde und zwei und vier und zeigt keinen Moment der Ermüdung. Zum Glück hatte er vorher gewarnt: Er sei nun mal Italiener, und als solcher rede er gern und viel. Er täuscht sich nicht in sich. Und unterstreicht sein Sprechen mit ausladenden Gesten. Auch das hat er von seinen italienischen Wurzeln über die Alpen gebracht.
Und bleibt bei diesem Sprechen seinem Grundsatz treu, dass das Heitere und das Ernste Geschwister sind. Ist mit seinen Gedanken am Krankenbett und in der Politik und in der Medizinethik, aber sogleich auch bei den schöneren Seiten des Lebens: Eigentlich wäre er am liebsten Dirigent geworden, aber da er auf einem Ohr nichts hört, ist dieser Wunsch ein Wunsch geblieben. Aber, immerhin, die Bekanntschaft großer Dirigenten hat er gemacht, Carlos Kleiber, Claudio Abbado („ich habe so geweint, als er gestorben ist“). Und seiner Stimme hat er zumindest eine Gesangsausbildung gegönnt. Dann erzählt er, wie er als Student alle paar Tage ins Münchner Nationaltheater ging, Stehplatz natürlich, und wie das war damals im „Tristan“ mit Kleiber an der Mailänder Scala. Die Musik ist ein Meer, und Gian Domenico Borasio ist weit, weit hinausgeschwommen.
Warum er das Thema aus den Schlagzeilen haben möchte
Fast schade, ihn jetzt wieder aufs Festland ziehen zu müssen. Aber nun soll endlich vom Deutschen Bundestag und dem Sterbehilfegesetz geredet werden. Und da sagt er: „Ach, wissen Sie, das mit der Sterbehilfe ist eigentlich ein überschätztes Problem.“ Wie bitte? Wird denn nicht seit Jahren landauf, landab in höchsten emotionalen Tönen darüber gestritten? Ärzte gegen Ärzte, Juristen gegen Juristen, Kirchenleute gegen Kirchenleute. Genau das, findet Borasio, sei ja das Problem. Das Thema werde ganz unsinnig aufgebauscht. Und zum Beweis seiner Meinung hat er Zahlen parat: In Ländern, in denen Suizidhilfe erlaubt ist, beträgt die Quote von Menschen, die damit ihr Leben beenden, gerade einmal 0,2 bis 0,7 Prozent aller Todesfälle. Verschwindend gering. Und warum wird so ausdauernd, so ideologisch darüber gestritten? „Wegen der Angst vieler Menschen, am Lebensende einen solchen Ausweg zu brauchen und nicht zur Verfügung zu haben. Und wegen der medialen Verzerrung“, glaubt Borasio.
Aber weshalb hat er sich dann mit seinem Gesetzentwurf an die vorderste Front dieses Streits begeben? „Um die Debatte mit einer vernünftigen Lösung zu beenden“, sagt Borasio. „Und damit wir endlich beginnen, über Wichtigeres zu reden.“
Der Gesetzentwurf trägt den Bedürfnissen beider Parteien Rechnung
Das ist womöglich so richtig, wie der Gesetzentwurf schlau ist. Denn er trägt den Bedürfnissen beider streitenden Parteien Rechnung. Den Liberalisierern und den Befürwortern strenger Regelungen. Der begleitete oder, wie es oft heißt, assistierte Suizid, also die Selbsttötung mithilfe einer Person, die ein tödliches Medikament bereitstellt, wird nämlich in seinem Entwurf ausdrücklich untersagt. Dennoch öffnet er die Tür, zumindest einen Spalt: Es soll Ausnahmen geben. Unter gewissen Voraussetzungen. Der Patient muss unheilbar erkrankt und seine Lebenserwartung von begrenzter Dauer sein. Erforderlich sind darüber hinaus unter anderem: Volljährigkeit, Freiverantwortlichkeit, Aufklärung über Alternativen zur Selbsttötung durch zwei unabhängige Ärzte. Verboten bleibt weiter die so genannte aktive Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen.
Gerade Letzteres ist für Borasio von besonderer Bedeutung. Denn ihn beunruhigt außerordentlich, dass in jenen Ländern, in denen diese Tötung auf Verlangen legalisiert wurde, in den Niederlanden zum Beispiel, in den vergangenen Jahren die Zahl solcher Tötungsfälle deutlich zugenommen hat. Wo hingegen nur die Begleitung bei der Selbsttötung erlaubt ist, gibt es keine Anzeichen für eine besondere Zunahme solcher Fälle. Offenbar macht es einen Unterschied, ob ein Arzt die tödliche Spritze setzt oder ob die Tatherrschaft wie beim begleiteten Suizid beim Sterbewilligen selbst bleibt.
Ebenso wichtig ist es, sagt Borasio, dass sein Gesetzentwurf eine Balance zwischen den immer wieder heftig diskutierten Polen Selbstbestimmungsrecht und Fürsorge schaffen könnte. Die Autonomie des Patienten würde respektiert, zugleich aber könnten Suizidwillige durch die Beratungspflicht vor übereilten, unüberlegten Entscheidungen geschützt werden.
Ohnehin hat er am Krankenbett so vieler Todkranker die Erfahrung gemacht, dass Menschen oft gar nicht selbstbestimmt sterben möchten, sondern sich gerne in die Fürsorge eines anderen begeben wollen. Das einseitige Verständnis von der Patientenautonomie greife oftmals zu kurz. Weil diese Autonomie ja aus einem komplizierten Netz verschiedenster Faktoren bestehe: soziale Beziehungen, persönliche Befindlichkeiten, kulturelle, religiöse Prägungen. Das Ich ist niemals bloß ein einzelnes Ich, es besteht aus vielen Ichs und vielen Wirs.
Er will, dass das Thema aus den Schlagzeilen verschwindet
Deshalb will Gian Domenico Borasio dieses Gesetz. Nicht nur weil damit endlich Rechtssicherheit geschaffen würde – für die Kranken, ihre Angehörigen, ihre Ärzte. Sondern auch, damit das Thema Sterbehilfe aus den Schlagzeilen verschwindet. Und zum zweiten Mal streift nun diesen vorsichtigen Mann ein Anflug von Zorn. „Die Debatte über die Sterbehilfe ist eine große Nebelkerze“, sagt er. Und meint damit: Sie lenkt ab von dem, was am Lebensende wirklich bedrohlich ist. Statt darüber zu reden, werde die Diskussion auf die Frage des Todeszeitpunkts verkürzt.
Und welche Bedrohungen sind das? Hauptsächlich drei, sagt er. Und drei ganz dringliche. Dass es noch immer keine flächendeckende palliative Versorgung gibt. Dass bei der Alters- und Krankenpflege die Mängel nach wie vor groß sind. Und dass es sehr oft zu einer sinnlosen Übertherapie am Lebensende kommt; ärztliche Maßnahmen, die die Patienten nur quälen, kaum zu einer wirklichen Verlängerung der Lebenszeit führen und die ausschließlich für eine Seite im Gesundheitssystem erfreulich sind – für die Pharmaindustrie. „Das ist empörend“, sagt Borasio.
Es ist ein langer Tag in Zürich geworden. Nicht nur wegen des italienischen Redeflusses. Sondern auch weil einer wie Borasio viel zu erzählen hat. Bei mehr als 10 000 todkranken Menschen ist er am Bett gesessen. Und jeder dieser 10 000 war ein Einzelfall, ein ganz besonderer Fall. Weil das Sterben immer etwas ganz Besonderes ist. Aber wie hält einer das aus, immer Mitleid zu haben? 10 000 Mal Mitleid? „Nein“, sagt er, „man darf als Arzt nicht mitleiden. Das hält man keine drei Tage aus. Man muss aber immer mitfühlen können.“
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.