Ex-Verfassungsrichter rügt Regierung: Papier sieht in Coronavirus-Krise Freiheitsrechte bedroht
Gesundheitsschutz rechtfertige nicht jedweden Freiheitseingriff, sagt der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Justizministerin Lambrecht widerspricht.
Noch kann in der Coronavirus-Krise in Deutschland längst nicht von Alltag die Rede sein. In der Politik wird heftig darüber gestritten, welche Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen möglich, nötig und zwingend sind. Am vergangenen Wochenende hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit seiner Warnung, dem Schutz von Leben nicht alles unterzuordnen, eine heftige Debatte angestoßen. Jetzt bezieht auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier (76), klar Position.
Papier sieht im Umgang mit der Pandemie die Freiheitsrechte in Gefahr. In der Krise seien nicht die Maßnahmen der Lockerung rechtfertigungsbedürftig, sondern die Aufrechterhaltung von Beschränkungen der Grundrechte, sagt Papier in einem Streitgespräch des „Spiegel“ mit Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Sinn und Zweck eines Verfassungsstaates in erster Linie der Schutz der Freiheit ist.“ Gesundheitsschutz rechtfertige nicht jedweden Freiheitseingriff.
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Lambrecht (54) entgegnete dem Magazin zufolge: „Das Bundesverfassungsgericht hat ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass der Staat eine besondere Schutzpflicht für das menschliche Leben hat, da es einen Höchstwert in unserer Verfassungsordnung darstellt.“ Die Ministerin gab aber zu, es könne nicht unbegrenzt so weitergehen: „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass wir nicht einen Tag länger als nötig auf unsere Freiheiten verzichten müssen.“
Papier kritisierte außerdem, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gewertet werde, obgleich es sich um eine Rechtsfrage und nicht um eine politische Frage handele. „Ich stelle mit Bedauern fest, wie wenig der Gedanke der parlamentarischen Demokratie derzeit überhaupt eine Rolle spielt.“
Dem erwiderte Lambrecht: „Den Vorwurf, dass die Parlamente ausgehebelt wurden, muss ich deutlich zurückweisen.“ Sowohl im Bundestag als auch in den Länderparlamenten seien die Maßnahmen ausführlich und kontrovers diskutiert worden.
Den Vorschlag, Risikogruppen von Lockerungen auszunehmen, sieht Papier ebenfalls kritisch: „Gebote oder Verbote allein auf bestimmte Altersgruppen oder auf Menschen mit Vorerkrankungen und Behinderungen zu beziehen, wäre außerdem eine ungerechtfertigte Diskriminierung.“
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Zuvor hatte bereits Schäuble mit seinen Aussagen im Tagesspiegel eine heftige Debatte ausgelöst. Der Bundestagspräsident hatte gesagt: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten, dann muss ich sagen, das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, so sei das die Würde des Menschen. „Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen“, sagte Schäuble.
Der CDU-Politiker erhielt für seine Aussagen Zustimmung von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), Grünen- und FDP-Politikern sowie Kirchenvertretern, wie die Nachrichtenagentur KNA zusammenfasste. Kritik kam aus der SPD. Laschet sagte demnach der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Schäuble habe recht. Schon das Gebot der Verhältnismäßigkeit im Grundgesetz fordere eine ernsthafte Abwägung zwischen Gesundheitsrisiken und Schäden des Lockdowns.
Mit Blick auf Virologen und Epidemiologen sagte der Ministerpräsident, sie seien wichtige Berater, aber sie trügen aus „ihrer besonderen Perspektive“ zur Entscheidungsfindung bei. Gute Politik müsse aber möglichst viele Perspektiven zusammenbringen und dann entscheiden. Besonders Kinder aus bildungsfernen Schichten und junge Familien dürften nicht aus dem Blick geraten. Das gelte auch für wirtschaftliche und medizinischen Folgen, etwa durch Einsamkeit von älteren Menschen oder Massenarbeitslosigkeit.
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Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, sagte der Zeitung, der Staat müsse das Leben seiner Bürger schützen und alles daran setzen, niemanden mutwillig zu gefährden. Jedoch müsse man bedenken, dass „das Leben noch viel mehr Facetten hat als das bloße Überleben“. Deswegen brauche man Vorkehrungen, damit Ältere nicht in Heimen vereinsamten oder Kinder lange niemanden außerhalb der Familie sehen könnten.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagte der „Welt“, angesichts der drastischen Eingriffe in die Freiheit müsse die Bundesregierung alle Maßnahmen immer wieder neu begründen. „Die Menschen erwarten zu Recht Verhältnismäßigkeit.“
Der Essener katholische Bischof Franz-Josef Overbeck erklärte im „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu den Aussagen von Wolfgang Schäuble, er halte es nicht nur für unangemessen, sondern sogar für gefährlich, unter Verweis auf den absolut übergeordneten Schutz des Lebens „jede weitere notwendige Diskussion moralisch von vornherein unmöglich zu machen“. Stattdessen brauche es den „Mut, offen zu benennen, dass es keine einfachen und unstrittigen Wege aus der Krise geben wird“, sagte Overbeck.
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Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford Strohm, sagte dem Hessischen Rundfunk, der Grundsatz vom Schutz des Lebens rechtfertige gravierende Einschränkungen. Wenn aber etwa Menschen etwa im Pflegeheim verlassen stürben, müsse man andere Abwägungen treffen.
Kritisch äußerte sich SPD-Chef Norbert Walter-Borjans. Schäubles Äußerungen seien missverständlich, weil sie bei einigen den Eindruck entstehen ließen, nun sei es auch mal gut mit den Einschränkungen, sagte er der „Welt“. „Wenn wir jetzt aus einer falsch verstandenen Güterabwägung zwischen Geld oder Leben heraus Beschränkungen voreilig lockern, verlieren wir am Ende beides.“