Schäubles Einlassungen zu Corona: Einer muss es mal sagen
Der Bundestagspräsident sieht die Lockerungsdebatte auf dem Weg in die Correctness-Falle. Deshalb provoziert er - mit Recht. Ein Kommentar.
Wolfgang Schäuble hat dem Tagesspiegel ein weithin beachtetes Interview gegeben, in dem er eine verfassungsrechtliche Betrachtung der Corona-Politik mit einer sehr persönlichen Sicht verbindet. Für seine Worte bekommt er Lob und viel Widerspruch. Das zeigt, er hat einen Punkt getroffen.
Der Bundestagspräsident äußert sich kritisch dazu, dass manche meinten, angesichts der Pandemie habe hinter dem Schutz des Lebens alles andere zurückzutreten. Anders als die Menschenwürde sei das Grundrecht auf Leben kein absoluter Wert, sondern durch andere Grundrechte einschränkbar, findet er.
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Zugleich zählt sich Schäuble mit Blick auf Alter und Krankheit selbst zur Hochrisikogruppe. Doch Jüngere hätten ein höheres Risiko: „Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.“
Nichts daran ist falsch. Doch von seiner ersten Bemerkung weiß der Jurist Schäuble, dass Menschen mit weniger Rechtskenntnis sie als Provokation empfinden würden.
Der Politiker spielt mit einem ethischen Tabu
Und die zweite ebenso, weil sie mit dem ethischen Tabu spielt, wonach jedes menschliche Leben ohne Rücksicht auf Alter und Befinden gleichermaßen wertvoll und zu schützen sei.
In der Summe setzt er damit einen Akzent in der Krise, der nach langen Wochen des Ausnahmezustands und des Handelns nach medizinischen Maximen die Politik zur Politik zurückführen soll.
Denn tatsächlich fallen die Sätze in eine Zeit, in der mit den ersten Lockerungen die politische Einheitsfront bröckelt, die den Shutdown weitgehend klaglos hingenommen hat – wenngleich von Beginn an mit äußerst gemischten Gefühlen.
Angesichts vorerst leer gebliebener Krankenhausbetten und wechselnder wissenschaftlicher Einsichten wird der Ruf nach mehr Freiheit und Rückkehr in den Alltag lauter.
Menschen verlieren ihre Existenzgrundlagen, Firmen rutschen in die Pleite; die Situation in Familien einschließlich Alleinerziehender ist mitunter desolat. Zugleich werden mit Erfolg rechtsstaatliche Prinzipien eingefordert. Gut gemeint genügt nicht mehr, wie der gerichtliche Streit um die willkürlich gezogene Grenze für Geschäftsflächen im Einzelhandel belegt.
Der Lockdown spaltet - auch das ist gefährlich
Eine gefährliche Situation? Unbedingt. Sie ereignet sich im Vordergrund eines Pandemieverlaufs, den derzeit niemand abschätzen kann. Der nächste erzwungene Stillstand könnte noch viel teurer werden als der erste. Gefährlich ist aber auch eine andere Situation: Der Lockdown spaltet.
Rentner oder Beschäftigte im Staatsdienst können gelassener sein, während andere um ihr Einkommen kämpfen; viele Ärmere werden ärmer, während nur die allerwenigsten reicher werden. Die Kosten einer globalen Rezession sind nicht annähernd eingepreist. Kommt es schlecht, wird es katastrophal.
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Schäuble, das deuten seine Worte an, sieht die deutsche Debatte auf dem Weg in die Correctness-Falle. Wie in der Flüchtlingskrise, als anfangs kaum eine Ansicht akzeptiert war außer der humanitären, stellt sich auch jetzt eine bisher ungern ausgesprochene Frage: Welches Maß an Menschlichkeit können wir, welches wollen wir uns leisten?
Und zwar nicht nur gegenüber potenziell gesundheitlich besonders Betroffenen, sondern auch gegenüber jenen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen anders leiden als Corona-Patienten im Krankenhaus?
Es wäre Irrsinn, das Corona-Management den Bürgern zu überlassen
Szenen wie in Bergamo darf es nicht geben. Doch wenn sie unwahrscheinlich werden, sind Mittel zu erwägen und in Relation zu stellen, die mit einem Fortdauern oder sogar einem möglichen Wiederanstieg des Infektionsgeschehens kalkulieren. Einschließlich der gesundheitlichen Folgen für alle.
Das erscheint kaltherzig, doch solche Positionen möchte ein Politiker wie Schäuble vernünftigerweise anklingen lassen, bevor andere sie besetzen.
Namentlich die AfD, deren Chef Gauland fordert, das Corona-Management schon jetzt den Bürgern zu überlassen. Das ist Irrsinn. Doch wahr bleibt: Für Gefährdete wird es wieder gefährlicher werden in den kommenden Monaten. Es geht nicht anders.
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