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Kampf gegen das Coronavirus: Kontrolle an der Grenze zu Polen
© dpa/Sebastian Kahnert

Coronavirus in einer hochmobilen Welt: Panik ist jetzt die eigentliche Gefahr

Aktionismus kann auch beim Kampf gegen das Coronavirus mehr Schäden anrichten als Risiken vermeiden. Maß und Mitte verändern sich aber. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Birnbaum

Manchmal, sagt ein altes Sprichwort, ist weniger mehr. In Jens Spahns Heimat im Münsterland scheint der Ratschlag geläufig zu sein. Jedenfalls passt er bisher auf das Agieren des Bundesgesundheitsministers in der Coronakrise. Spahn ist nicht auf Dauersendung, sondern tritt mit wenigen, konzentrierten und besonnenen Botschaften an die Öffentlichkeit.

Umso mehr fällt dann natürlich die unterschwellige Ungeduld auf, mit welcher der oberste politische Krisenmanager am Wochenende plötzlich bemängelte, dass Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern „immer noch zu zaghaft abgesagt“ würden. Haben wir, hat Spahn etwas verpasst? Ist das, was bisher gesagt und getan wurde, doch zu wenig?

Hintergrund über das Coronavirus:

Die spontane Antwort wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem wer sie gibt: der Corona-Patient, den das Virus böse erwischt hat, der Klopapier-Hamsterkäufer, der Bundesliga-Fan, der Unternehmer. Jeder von ihnen hat berechtigte Anliegen. Die Aufgabe der Politik besteht darin, allen gerecht zu werden, aber Prioritäten zu setzen. Wenn Ärzte keine Atemschutzmasken mehr kriegen, weil besorgte Bürger sie horten, muss der Staat rationierend eingreifen.

Das Problem ist, die Prioritäten zum richtigen Zeitpunkt zu setzen. Das klingt einfacher, als es ist, zumal für einen Bundesminister, der selbst nur Empfehlungen geben kann. Natürlich hat die Gesundheit Vorrang vor allem anderen. Aber daraus zu schließen, dass man gegen die drohende Epidemie von Anfang an mit allen Mitteln hätte angehen müssen, führt geradewegs ins Unheil. Wer „sicherheitshalber“ zu früh zu viel vom Verfügbaren verpulvert, hat nichts mehr, wenn er es braucht. Der Maskenmangel zeigt das schlagend auf.

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Auch auf anderen Gebieten kann Aktionismus mehr Schäden anrichten als Risiken vermeiden. Leere Drogerieregale zeigen, wie schnell unsere Versorgung an Grenzen gerät und wie berechtigt die Sorge vor Überreaktionen ist. Beim Klopapier taugt der Mangel noch für Witze. Aber unsere Wirtschaft und Gesellschaft sind wenig krisengeübt, weder im Alltag noch in den Köpfen. Eine Panik kann mehr Leben bedrohen als das Virus selbst. Auch das zwingt zu abgewogenen Reaktionen.

Richtiger Zeitpunkt und richtiges Maß sind allerdings schwer zu treffen, zumal das Ziel selbst so beweglich ist. Auch die Wissenschaft gibt ja nur begrenzt Halt. Sie lernt selbst erst täglich dazu. Manche Erkenntnis ist tröstlich – Kinder werden selten krank –, manche nicht: Die Zahl der Infizierten, Kranken und Toten wird bald auch hierzulande stark ansteigen.

Wirklich vermeiden lässt sich eine Epidemie in der hochmobilen Welt nicht mehr

Nur weiß niemand, wie stark. Klar ist nur: Wirklich vermeiden lässt sich eine Epidemie in der hochmobilen Welt des 21. Jahrhunderts wohl nicht. In Heinsberg nahm das Virus seinen Weg per Karneval; ohne das Narrentreffen hätte es andere Pfade gefunden. Das ist kein Grund für Fatalismus oder gar Sorglosigkeit. Aber zu akzeptieren, dass absolute Abwehr nicht funktioniert, macht den Blick vielleicht sogar eher frei für die scheinbar kleinen, relativ nützlichen Schritte.

Wir können ja etwas tun. Auch wenn Händewaschen so ganz und gar unspektakulär klingt: Das Virus lässt sich dadurch bremsen. Das tut auch not, damit Ärzte und Krankenhäuser die schweren Fälle nach und nach behandeln können, damit nicht Menschen sterben müssen, weil das System überfordert wird.

Hat Spahn zu spät die Zügel angezogen, hätte er früher alarmierter auftreten müssen? Bisher gibt ihm der Verlauf der Epidemie recht. Aber wir stehen – politisch wie faktisch – vor einem kritischen Punkt. Je mehr Menschen vorsorglich daheim bleiben (müssen), je mehr auch kleinere Veranstaltungen ausfallen, je stärker das Virus im Alltag ankommt, desto wichtiger werden Rat und Vertrauen in den Ratgeber. Maß und Mitte verändern sich dabei so dynamisch wie die Lage selbst. Weniger ist oft mehr. Die ersten Toten hierzulande könnten aber der Moment sein, in dem es mehr Mehr braucht.

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