Coronavirus-Vorsorge in Entwicklungsländern: „Menschen zu isolieren wäre eine Herausforderung“
Wie sich Ärzte ohne Grenzen auf Covid-19 in Entwicklungsländern Asiens vorbereitet – und welchen Druck China auf diese Länder ausübt.
China, Korea, Iran oder Italien sind derzeit im Blick der öffentlichen Aufmerksamkeit – doch in vielen Ländern könnte sich Covid-19 dramatisch entwickeln. Wir sprachen mit Tankred Stöbe von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hierüber: Als Notfallkoordinator reiste der Berliner Arzt kürzlich für vier Wochen nach Asien und war in Hongkong, Japan, Kambodscha, Laos und Thailand.
Sie sind vor ein paar Tagen von einer vierwöchigen Projektarbeit für „Ärzte ohne Grenzen“ aus Asien zurückgekommen. Welche Eindrücke bringen Sie mit?
Unsere größte Sorge gilt den vielen Patienten, die wir in Kambodscha mit chronischer Hepatitis behandeln, in Papua-Neuguinea mit Tuberkulose, in anderen Ländern mit HIV, den Migranten und Obdachlosen in den Großstädten. Sie alle haben eine reduzierte Immunkapazität und dem Coronavirus wenig entgegenzusetzen.
Meine Hauptaufgabe war es, hier mit unseren Teams Vorbereitungen zu treffen: Was können sie konkret tun, wie werden Covid-19-verdächtige Patienten isoliert und diagnostiziert, wie sind die Behandlungskapazitäten? Das sind eigentlich einfache Fragen. Aber wie fast überall hapert es nicht an den theoretischen Konzepten, sondern an der praktischen Umsetzung vor Ort. Wenn Corona-infizierte Patienten ankommen, fehlt eine spezifische Hilfe, da es bislang keine Medikamente oder Impfstoffe gibt. Daher ist es so wichtig, die vulnerablen Menschen vor dem Virus zu schützen.
Welche Faktoren sind hierbei wichtig?
Der Ausbruch ist nicht nur medizinisch, sondern auch politisch und wirtschaftlich bedeutsam. Der Einfluss Pekings in Asien ist spürbar – und China hat kein Interesse daran, dass die Epidemie dramatischer, länger oder teurer wird als sie es jetzt schon ist. Dem Einfluss Chinas können die Länder in der Region sich nicht entziehen.
Welche Auswirkungen hat das?
Ich weiß von Meetings, bei denen Vertreter Chinas gesagt haben: Liebe Freunde in Südostasien, wir sind weiterhin an einer guten Zusammenarbeit interessiert. Es ist für uns klar, dass ihr die Grenzen offenhalten müsst – wenn ihr das anders handhabt, müssen wir unsere Freundschaft überdenken. Ein Land wie Kambodscha oder Laos kann sich dem nicht verwehren.
Wie sieht die Situation in den südlichen Nachbarländern Chinas aus? Es gab dort ja noch keine Ausbrüche.
Besonders in Bezug auf Laos waren wir besorgt – das ist ein armes Land, mit einer eingeschränkten medizinischen Infrastruktur, aber einer Landgrenze zu China. Wir haben uns auf den Norden bis zur chinesischen Grenze konzentriert und dort mit vielen Ärzten und Krankenhausvertretern gesprochen und gesehen, dass sie relativ gut vorbereitet wird. Sie wissen, wie sie mit infizierten Patienten umgehen würden – wie sie testen, wohin die Proben geschickt werden, wie schnell die Ergebnisse zurückkommen.
In Myanmar ist es ähnlich. Das hat uns überrascht: Es widerspricht den Mutmaßungen, dass arme Länder schlecht vorbereitet sind und reiche gut. Diese einfache Parabel stimmt zumindest für diesen Ausbruch und diesen Kontext nicht. Ich habe aber auch in Besprechungen gesessen, wo trotz vorheriger Deklaration eines nationalen Notfalls immer noch um Grunddefinitionen von COVID-19 gerungen wurde – die eigentlich schon klar waren. In vielen Ländern besteht die Herausforderung, die Empfehlungen praktisch umzusetzen.
[Alle aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus erfahren Sie in diesem Newsblog, zur Lage in Berlin in diesem Newsblog.]
Warum gibt es etwa in Laos keine nachgewiesenen Infektionen, obwohl es an China angrenzt?
Einer der wichtigsten Gründe ist, dass China die Grenze nach Laos fast vollständig geschlossen hat, um den Ausbruch einzugrenzen. Das einzige, was noch fuhr, waren Lkws aus Thailand, die Container nach China gebracht haben. Der Norden von Laos ist abhängig von China – er ist jetzt praktisch verwaist und das Land wirtschaftlich gefährdet. Die Menschen sind verzweifelt, weil ihre Lebensgrundlage bedroht ist. So richtig es epidemiologisch ist, Räume abzugrenzen, fragen sich die Betroffenen, wie lange das ökonomisch rechtfertigbar ist.
China wird die Isolation im Land wie auch zu den südlichen Nachbarn irgendwann beenden müssen.
Ja – in China geht die Zahl der Neuinfektionen jetzt deutlich zurück, wobei die Daten von außen nicht objektivierbar sind. Hier gibt es keine endgültige Klarheit. Aber es gibt politische Interessen, den Ausbruch möglichst bald zu beenden. In der dritten Februarwoche sagten uns Menschen in Laos, die Grenze sei schon seit Wochen zu und so werde es wohl bleiben. Niemand wusste, wann sie wieder geöffnet wird. Dann könnte sich die Situation ändern.
Was macht „Ärzte ohne Grenzen“ in China?
Wir haben unsere Hilfe angeboten und von Hongkong aus medizinische Schutzausrüstung für eine Klinik in der am schlimmsten betroffenen Region um die Stadt Wuhan in China organisiert. Trotz seiner wirtschaftlichen Kapazität ist das Land in Bezug auf Schutzkleidung an seine Grenzen gekommen. Hongkong selbst war in den letzten Monaten von politischen Auseinandersetzungen geprägt – jetzt wurden diese von der Epidemie abgelöst mit über 100 bestätigten Fällen. Es gab Aufstände in Krankenhäusern: Das Personal forderte, die Grenzen nach China zu schließen. Die Panik, die man zum Teil jetzt auch in Berlin erlebt, war vor einem Monat in Hongkong noch ausgeprägter.
China hat nun viel Erfahrung mit Covid-19, und große Testkapazitäten. Hilft das Land seinen Nachbarn?
Davon habe ich nichts gesehen – China ist wohl im eigenen Land noch so eingespannt, benötigt alle Kapazitäten dort.
Aber wäre es nicht nötig, auch um Re-Infektionen nach China zu verhindern? Eine weitere Ausbreitung des Virus ist ja kaum zu stoppen.
Es gibt hier noch viele offene Fragen – es kann sein, dass das Virus sich in wärmeren Ländern nicht so schnell ausbreitet wie in Japan oder Südkorea. Ob China die Kapazität entwickelt, den Nachbarn zu helfen, ist offen. Das Land wird noch lange mit der eigenen Aufarbeitung beschäftigt sein, so massiv sind alle Bereiche betroffen – wirtschaftlich, politisch und medizinisch.
Kann man sicher sein, dass sich das Virus in Laos oder Kambodscha nicht schon unerkannt verbreitet? Auch die USA oder Italien haben dies offenbar über Wochen nicht bemerkt.
Meine Wahrnehmung aus Laos ist, dass sie wachsam und epidemiologisch einigermaßen vorbereitet sind. In den ersten Wochen wurden in Phnom Penh nur 50 Personen getestet. Eine hohe Testqualität ist in den meisten Ländern aber vorhanden – das Problem sind die weiten Wege und damit die Zeit. Es gibt nur jeweils ein Labor in Kambodscha und Laos, dass die Tests durchführen kann. Die Proben müssen auf dem Luftweg dorthin gebracht werden. Die Menschen länger zu isolieren wäre eine Herausforderung.
Größere Sorgen bereiten mir die Behandlungskapazitäten in den Krankenhäusern. Nur in wenigen Kliniken gibt es Beatmungsplätze. Die intensivmedizinischen Kapazitäten in den Nachbarländern Chinas sind limitiert.
Wie würden Sie Covid-19 mit anderen Erkrankungen vergleichen?
Sie ist in vielerlei Hinsicht einzigartig und interessant. Es gibt keinen Krankheitsausbruch, der so früh so intensiv beforscht wurde. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren über diesen Ausbruch besser Bescheid wissen als über alle vorherigen. Aber da sind wir noch nicht, viele Fragen lassen sich momentan noch nicht beantworten. In vielen Ländern gibt es Krankheiten, die für die betroffenen Menschen ernster, gefährlicher und tödlicher sind.
Was ist dabei Ihr größtes Sorgengebiet?
Für uns ist dies Bangladesch mit Cox‘s Bazar, einem der größten Flüchtlingslager der Welt, wo Ärzte ohne Grenzen stark engagiert ist. Wir könnten dort auch Patienten behandeln, die an Covid-19 erkrankt sind. Aber es leben zehntausende Menschen auf engstem Raum zusammen, ein Ausbruch würde massive Konsequenzen haben. Ein Szenario, das ich mir nicht vorstellen möchte.
Wie sieht es in anderen asiatischen Ländern oder in Afrika aus?
Pakistan hatte relativ früh eine gute nationale Strategie – aber die Frage ist, ob die Ärzte und Pfleger vor Ort konkret wissen, wie sie handeln sollen. In Afrika gibt es noch wenig bekannte Fälle - aber der Kontinent ist natürlich vulnerabel, weil die Gesundheitssysteme oft nur rudimentär entwickelt sind und die Länder wenig Kapazitäten zum Testen, Isolieren und Behandeln haben. Unsere Teams sind in Alarmbereitschaft.
Was kann Deutschland tun? Sollten wir nicht einen Teil unserer nicht so vielen Masken in andere Länder schicken, um dort die Ausbreitung zu stoppen – die am Ende wieder Deutschland erreichen kann?
Meine Sorge ist, dass hier das Gefühl überwiegt, zuerst unsere eigene Epidemie bekämpfen zu müssen, bevor woanders geholfen werden kann. Deutschland hat gerade beschlossen, keine Schutz-Materialien mehr zu exportieren. Doch überall muss ein rationaler Ressourcenverbrauch angemahnt werden. In Hongkong und Japan trägt fast jeder eine Maske, das ist auch dort nicht notwendig. Wir sehen weltweit, dass die Angst vor Corona zu einem massiven Gebrauch der Masken führt, die den wirklich Bedürftigen dann nicht mehr zur Verfügung steht. Aber selbst bei der Ebola-Epidemie in Westafrika war es schwierig, Hilfe zu mobilisieren, es hat Monate gedauert – wir waren verzweifelt.
Werden wegen Covid-19 andere Probleme und Notsituationen vernachlässigt?
Das ist eine wichtige Frage – in Afrika gibt es dramatische Probleme mit Malaria, Ebola und anderen Infektionskrankheiten. Unsere Kollegen im Kongo sind besorgt, weil weltweit der Fokus auf Covid-19 konzentriert ist. Wir haben die Sorge, dass die Epidemie andere wichtige Themen aus dem globalen Bewusstsein verdrängt. Es gibt derzeit dramatische Konflikte wie in Syrien oder im Jemen.
Wie gehen die Gesellschaften mit Covid-19 um, soweit Sie es auf Ihrer Reise beobachten konnten?
In Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh geht das Leben weiter wie bisher, da gibt es Wildtiermärkte mitten in der Stadt. Nur wenige Menschen tragen Masken, etwa am Flughafen – oder einige Tuktuk-Fahrer nutzen sie wegen des Smogs. Dort hatte ich den Eindruck, dass Covid-19 kein relevantes Thema ist: Malaria, HIV, Straßenunfälle oder die Ernährung der Familie sind wichtiger als ein abstraktes Epidemiegeschehen. Ein anderes Problem: An südostasiatischen Flughäfen, wie auch jenem in Bangkok, fehlten effektive Screening-Mechanismen – und das sind wichtige Drehkreuze.
Wie sehen Sie nach Ihrer Rückkehr auf die Situation in Deutschland?
Es gibt hier keinen Anlass zur Panik. In den stark betroffenen Ländern Südkorea, Norditalien und Iran sieht es anders aus. Wir sollten aufmerksam sein, die Hygieneregeln einhalten und unsere Reiseaktivitäten kritisch überdenken.
Auch wir von Ärzte ohne Grenzen haben viele nicht unbedingt notwendigen Reisen abgesagt, doch wir kommen ohne Reisen nicht aus: Unsere weltweite Hilfe lässt sich nicht aus der Ferne telefonisch regeln. Wir mussten etwa in Laos die Krankenhäuser und Grenzstationen besuchen und uns ein eigenes Bild verschaffen. Wir glauben heute manchmal, alles ließe sich virtuell klären – doch gerade auch in so einer Krise müssen Experten vor Ort sein. Aber wir alle müssen unser Verhalten kritisch hinterfragen.