Die Ruhe nach dem Sturm: Österreichs Übergangskanzlerin muss eine aufgescheuchte Republik beruhigen
Sie will sich um Vertrauen bemühen – und nichts ist derzeit nötiger in Österreich als das. Brigitte Bierlein ist nun offiziell Österreichs Kanzlerin.
Eine Klingel kündigt Brigitte Bierlein an, als sie kurz vor 11 Uhr am Montagvormittag in der Kanzlei des Bundespräsidenten in der Wiener Hofburg eintrifft. Eine Minute nach 11 Uhr schreitet sie mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen hinein in das Maria-Theresien-Zimmer, das auch das „Wohnzimmer der Republik“ genannt wird – hier werden die Kanzler und Minister vereidigt. Brigitte Bierlein, bislang Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, wird heute offiziell zur ersten Frau im Amt.
„Das schaff ma schon“, sagt der wie immer bis zur Stoik besonnene Bundespräsident Van der Bellen in seiner kurzen Rede, er betont das seit Tagen. Brigitte Bierlein ist seine Beruhigungspille für die aufgescheuchte Republik. Sie wird ein Expertenkabinett anführen, es als oberste Beamtin auf Zeit leiten – und nach den Neuwahlen im September die Amtsgeschäfte an ihren Nachfolger übergeben.
Nun soll Schluss sein mit dem hektischen Kommen und Gehen im Wohnzimmer der Republik, ausgelöst von jenem Video aus einem viel profaneren Wohnzimmer einer Finca auf Ibiza, in dem der spätere Vizekanzler Heinz-Christian Strache der Republik im Sommer 2017 mit einer vermeintlichen russischen Milliardärsnichte über allerlei halbseidene Geschäfte zum beiderseitigen Vorteil plauderte. Zu sehen ist Strache, wie er auf der Couch lümmelt und den Mitverschwörern ausmalt, was passiert, wenn seine neue reiche Freundin sich erst die mächtige Boulevardzeitung „Krone“ einverleibt hat. „Zack, zack, zack“, werde es dann gehen – und das ging es auch, zwei Jahre später, in Österreichs Innenpolitik.
Die vierte Regierung in nur zwei Wochen
Mit dem Kabinett Bierlein erlebt das Land seine vierte Regierung in nur zwei Wochen. Erstmals wurde ein Innenminister entlassen; erstmals wurde ein Kanzler per Misstrauensvotum vom Parlament aus dem Amt gedrängt; erstmals sitzt nun eine Frau im Bundeskanzleramt.
Brigitte Bierlein wirkt wie eine gute Lösung in einer polarisierte Lage: Die parteifreie Juristin hat genug Nähe zur ÖVP des Ex-Kanzlers Sebastian Kurz und zu Heinz-Christian Straches FPÖ, um die rechtskonservative Mehrheit im Parlament und im Land zufriedenzustellen. Und sie hat sich gerade weit genug von der Parteipolitik ferngehalten, um für die Sozialdemokraten und den Rest der progressiven Kräfte tragbar zu sein.
Das erste Machtwort der neuen Kanzlerin fiel recht leise aus, aber deutlich genug, dass die Adressaten es verstehen konnten. Nach einem kurzen Empfang war Bierlein die 15 Meter von der Präsidentschaftskanzlei hinübergelaufen zum Bundeskanzleramt auf der gegenüberliegenden Seite des Ballhausplatzes. Seit Alexander Van der Bellen sie am vergangenen Donnerstag als designierte Kanzlerin präsentierte, war Bierlein praktisch untergetaucht: keine Interviews, keine Medientermine. Die Redaktionen mussten für Berichte über sie alte Fotos hervorkramen. Sie zeigten Bierlein als Verfassungsrichterin im schwarzen Talar mit violettem Samtkragen, einen weißen Hermelin um den Hals.
Nun stand sie als Hausherrin im Bundeskanzleramt vor den Kameras, im unauffälligen Kostüm, ein angespanntes Lächeln auf den Lippen, und richtete ihre Worte an die „geschätzten Österreicherinnen und Österreicher und alle, die in unserem Land leben“. Sie werde sich um Vertrauen bemühen. Ein Leitbild, das ihr Alexander van der Bellen sozusagen mit auf den Weg gegeben hat. Denn er war es, der eine „Vertrauensregierung“ versprochen hatte.
Eine Frau muss es richten
So sehr Brigitte Bierlein willens ist, sich in dieser „besonderen Situation“ für eine Kurzzeitkanzlerschaft herzugeben, so sehr sieht sie die Bringschuld auch bei den Parteien, die schon wieder voll im Wahlkampf stecken und sich – so macht es den Eindruck – weniger um die Stabilität des Landes scheren als um den eigenen Vorteil. Nicht einmal auf einen genauen Termin für die Neuwahlen können sich ÖVP, FPÖ und SPÖ derzeit einigen, also sprach Bierlein ein für sie typisches Machtwort, nicht zu aufdringlich, aber klar verständlich: „Ich möchte daran erinnern, dass die Parteien möglichst rasch Vorkehrungen für die Neuwahlen treffen sollten.“
Ein Mann hat den Schlamassel angerichtet mit seinem, wie Heinz-Christian Strache es selbst formulierte, „alkoholbedingten Machogehabe“ an einem Abend auf Ibiza. Und eine Frau muss es wieder richten. „Glas Cliff“ lautet der Fachbegriff für dieses Phänomen. Wenn Frauen in Spitzenpositionen kommen, dann oft in Krisenzeiten. Brigitte Bierlein scheint das nicht zu stören, sie nutzt die Gelegenheit, um sich besonders „an die jungen Frauen“ zu wenden: „Unser Land braucht sie alle, ihre Kraft und ihren Glauben an Österreich.“
Ihre Berufung wurde durchaus als Zeichen gewertet in einem Land, in dem Frauen in Spitzenpositionen noch immer Exotinnen sind. „Wir sind Kanzlerin“, titelte das Gratisblatt „Heute“. Besonders links von der Mitte war der Applaus laut für den Vorschlag von Bundespräsident Van der Bellen. Dabei ist Bierlein weder links von der Mitte einzuordnen noch eine erklärte Feministin, eher im Gegenteil. Die konservative 69-Jährige spricht sich gegen eine Frauenquote aus, weil „Frauen das eigentlich nicht mehr brauchen sollten“.
Sie jedenfalls brauchte in ihrer Karriere keine Quote, um voranzukommen. Geboren wurde Brigitte Bierlein 1949 in Wien als Tochter eines Beamten und einer Hausfrau. Die Mutter steckte sie mit ihrer Liebe zur Kunst an, Bierlein versuchte sich an der Aufnahmeprüfung der Universität für Angewandte Kunst, ließ sich aber, so erzählte sie es selbst einmal, von den Fertigkeiten der Mitbewerber abschrecken. Sie verlegte sich aufs Sammeln. Das Jurastudium war ihre zweite Wahl, aber erfolgreich. Mit nur 27 Jahren wurde sie Staatsanwältin. Der erste große Karriereschritt führte sie 1990 als erste Frau an die Generalprokuratur, die höchste Staatsanwaltschaft am Obersten Gerichtshof. Später führte sie die Vereinigung der Staatsanwälte an, auch hier als erste Frau im Amt.
Das Kopftuchverbot hält sie für „problematisch“
Alexander Van der Bellen hat sie eine „ewige Pionierin“ genannt. Sie selbst hat daraus in ihren raren öffentlichen Aussagen keine große Geschichte gemacht: „Ich war einfach immer zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle“, sagte sie 2004 im österreichischen Fernsehen. Wie sie denkt, zeigt eine der wenigen bekannten Anekdoten über Bierlein: Als ein Dieb ihr die Handtasche entreißen wollte, so heißt es, klammerte sie sich daran fest und ließ sich von ihm über den Boden schleifen – bis der Mann entnervt aufgab.
2002 fand sie sich plötzlich für ein paar Tage unverhofft in den Nachrichten wieder, als sie in ein Amt gebracht wurde, für das sie sich gar nicht beworben hatte: Die schwarz-blaue Regierung berief sie zur Vizepräsidentin am Verfassungsgerichtshof. Wieder als erste Frau, aber diesmal ohne Zustimmung der SPÖ, damals in der Opposition. Der für seine Bissigkeit bekannte SPÖ-Fraktionschef Josef Cap nannte sie eine „stramme Konservative“, was noch zu den harmloseren Vorwürfen gehörte.
Heute hört man jedoch auch aus den Reihen der SPÖ kein schlechtes Wort über Bierlein. Sie hat sich einen tadellosen Ruf erarbeitet, ihre Berufung zur ersten Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs 2018 wurde mangels Getöse fast schon zu einer Randnotiz. Seither dosierte sie ihre öffentlichen Einwürfe sorgsam, was ihnen umso mehr Gewicht verlieh. Gegen die Versuche der Regierung von Sebastian Kurz, sich mit Gesetzesverschärfungen und Härte gegen Ausländer zu profilieren, legt Brigitte Bierlein immer wieder Einspruch ein. Das Kopftuchverbot hält sie für „problematisch“, die geplante Präventivhaft für Asylbewerber für reine „Anlassgesetzgebung“. Die Interventionen fielen in eine Zeit, in der Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ – eher rechts orientiert – forderte, das Recht müsse der Politik folgen.
„Zu öffentlichen Streitfragen hat sie sich wohltuend objektiv und rechtlich korrekt geäußert“, sagt Heinz Mayer, einer der profiliertesten Verfassungsrechtler des Landes. Mayer ist Herausgeber der Standardkommentierung der österreichischen Verfassung, B-VG, wie sie kurz heißt. Mayers Telefon steht kaum still, Verfassungsexperten sind gefragt, der Text aus dem Jahr 1920 ist schließlich der „heimliche Star“ der Regierungskrise, wie der Österreichische Rundfunk (ORF) sagt. Entlassene Innenminister, Übergangsregierungen, das Misstrauensvotum gegen Sebastian Kurz – all das konnte Bundespräsident Alexander Van der Bellen mithilfe der Verfassung bewältigen, die er für ihre „Schönheit und Eleganz“ rühmte. Heinz Mayer lacht, wenn er den Spruch hört. „Das sind nicht meine Kriterien – aber tauglich ist sie. Sie hat Antworten gegeben auf die Gefahr einer Staatskrise.“
Der neue Verkehrsminister steht für die alte Regierung
Kein Zufall, dass nun die oberste Hüterin der Verfassung auch für kurze Zeit die Staatsgeschäfte übernimmt. Völlig losgelöst von den Zwängen der Tagespolitik kann aber auch sie nicht handeln: In Bierleins Kabinett spiegeln sich die Kräfteverhältnisse der Republik wider, etwas anderes hätten die drei großen Parteien ÖVP, FPÖ und SPÖ nicht akzeptiert. Fast alle haben als Sektionschefs, also als hohe Beamte gedient – aber fast alle haben eben auch ein Parteibuch. Es heißt, die Zustimmung zu Bierlein sei an die Ernennung zweier Minister gebunden gewesen, die etwa zeitgleich mit ihr bekannt wurden: Ex-SPÖ-Mann Clemens Jabloner als Justizminister und Sebastian Kurz’ außenpolitischer Planer Alexander Schallenberg als Außenminister.
Im Maria-Theresien-Zimmer fällt jedoch auch ein anderer Mann auf. Nicht nur, weil er alle übrigen weit überragt, sondern auch, weil er einen gut sichtbaren Schmiss auf der linken Wange trägt. Es ist Andreas Reichhardt, der neue Verkehrsminister. Von ihm kursiert in den Medien vor allem ein Bild, das ihn als jungen Erwachsenen zeigt, inmitten seiner stramm rechten Kameraden einer Wehrsportgruppe, einer davon der junge Heinz-Christian Strache. Die FPÖ hat mit dem Burschenschafter ihren Mann ins Kabinett gehievt – auch eine Erinnerung daran, wie die Machtverhältnisse liegen.
Wenn sich daran nichts ändert, wird Sebastian Kurz nach seinem absehbaren Sieg bei den Neuwahlen überlegen müssen, ob er nicht doch wieder mit der FPÖ koaliert. Dass er wieder ins Kanzleramt einzieht, daran zweifelt nicht mal er selbst öffentlich: In einem Interview mit dem „Kurier“ sagte er, dass er sogar einige seiner Möbel im Bundeskanzleramt gelassen habe.
Brigitte Bierlein könnte dann in Ruhe in Rente gehen. Mit 70 Jahren hat sie die Altersgrenze für Verfassungsrichter erreicht – und ihren letzten Dienst als oberste Beamtin der Republik getan.
Christian Bartlau